Das Falsche in mir
nur eine verrückte Erfindung einer verrückten Gottheit, die mit ihrer Macht spielt.
Ich hole tief Luft, aber die grausige Illusion verschwindet nicht. Ich bin erstaunt, dass ich überhaupt noch zusammenhängend sprechen kann.
Aber vielleicht bilde ich mir auch das nur ein.
»Warum sollte ich?«, sage ich. »Es ändert ja nichts mehr.«
»Du wolltest doch reden. Jetzt rede.«
Ich binde ihm eine Hand los, damit er von dem Wein trinken kann. Ich nehme selbst einen tiefen Schluck, und langsam fühle ich mich wieder normal.
»Also gut«, sage ich langsam, »ich versuche es.«
»Aber nicht diese Geschichten drum herum. Nur das, worauf es ankommt.«
Ich öffne den Mund, aber die Worte stecken jetzt in mir fest, verklebt und vernagelt wie ein kompaktes Gebilde, sie wollen sich nicht voneinander lösen, sich neu zu einer Geschichte fügen. Ich sehe nur Bilder, die sich jeder Beschreibung entziehen.
10. Oktober 1977. Das Datum, das mir in der Seele brennt.
10. Oktober 1977 …
Nachts.
Ich sehe: Marions weiße, unversehrte Haut. Der erste tiefe Schnitt durch das Fleisch, die Adern, die Sehnen hindurch – sie reißen mit einem Geräusch wie ein Peitschenhieb –, bis dasMesser den Knochen erreicht. Die klaffende Wunde von überirdischer Schönheit und Reinheit.
Die Erkenntnis, dass ich zerstören muss, was ich lieben will.
»Ich habe es aus Liebe getan«, sage ich schließlich.
»Was für ein Blödsinn«, sagt Vassilis.
Ich binde ihn ganz los. Stelle ihm frei zu gehen, mich rauszuschmeißen, die Polizei anzurufen – das zu tun, wonach ihm ist. Erstaunlicherweise passiert nichts davon. Er geht lediglich duschen und zieht sich frische Sachen an.
Inzwischen ist es zwei Uhr nachts. Ich lege mich aufs Sofa im kleinen Wohnzimmer und schlafe sofort ein.
Am nächsten Tag wache ich erfrischt auf. Die Uhr zeigt zehn, es ist sehr hell im Zimmer, weil die Sonne scheint. Die Wohnung ist leer, aber ich kann hören, dass Vassilis sich unten im Imbiss zu schaffen macht. Keine Spur von Polizei.
Ich bin beinahe glücklich, dusche, ziehe mich an und gehe dann hinunter.
Der Imbiss ist leer bis auf Vassilis, der hinter der Theke Gemüse schneidet. Wieder fällt mir auf, wie sauber und ordentlich es hier ist im Vergleich zu seiner Wohnung.
»Ich fahre zum Bahnhof und hole meine Sachen aus dem Schließfach«, sage ich, einfach voraussetzend, dass ich hier weiter wohnen kann.
»Willst du nichts essen?«, fragt Vassilis beiläufig.
Er trägt wieder seinen weißen Kittel und wetzt sein Messer an einem Block. Auf der Arbeitsplatte vor ihm liegen rote Paprikaschoten. Es riecht köstlich nach Fleisch am Drehspieß, aber dafür ist es mir noch zu früh.
»Lieber später«, sage ich. Die Situation ist einerseits entspannt, andererseits alles andere als das; wir schleichen umeinander herum wie Hunde, die noch nicht wissen, ob sie spielen oder kämpfen wollen.
Ich verabschiede mich und trete auf die Straße, in eine verzauberteWelt, gleißend hell, mit pudrigem Schnee, der unter meinen Schuhen staubt, und Eiskristallen in der Luft, die in der Sonne aufleuchten wie winzige Diamantsplitter.
Ich fahre mit dem Bus zum Hauptbahnhof, vermummt mit einer Wollmütze und einem dicken Schal, den ich mir von Vassilis ausgeliehen habe. Über die Schulter meines Vordermannes lese ich die Schlagzeile einer Boulevardzeitung. In riesigen Lettern steht da: »Keine Spur von Karen.« Die Unterzeile lautet: »Polizei befürchtet das Schlimmste.« Ich lehne mich zurück, unterdrücke meinen Husten, der in der trockenen Heizungsluft nicht besser werden will, starre aus dem Fenster, während mir der Schweiß ausbricht und mein Gesicht so heiß wird, dass ich in Versuchung bin, Mütze und Schal abzuwerfen.
Diesen Mord, wenn es einer sein sollte, kann ich nicht begangen haben. In mir beginnt etwas zu singen, steigert sich zu einem leisen inneren Crescendo, und ich muss mich zusammennehmen, um nicht breit zu grinsen.
Es gibt, genauer betrachtet, auch keinen Grund dafür, denn in den Augen der Polizei habe ich natürlich auch diesmal kein Alibi. Karen muss schon seit ein paar Tagen abgängig sein, sonst wäre die Schlagzeile anders formuliert gewesen. Wenn ich Pech habe, ist sie verschwunden, bevor ich krank wurde und bei Vassilis Unterschlupf fand.
Damit wäre ich weiterhin der Hauptverdächtige.
Im Bahnhof kaufe ich mir mit gesenktem Kopf, mein Gesicht gut versteckt hinter Mütze und Schal, alle erhältlichen Tageszeitungen und hole dann mein Gepäck
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