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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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Club in Leyden, und der befindet sich, wie ich jetzt weiß, im Haager Weg.
    Ich denke nach.
    Unten höre ich Vassilis mit Töpfen und Geschirr klappern. Sein Lokal ist jetzt, um die Mittagszeit, gut besucht.
    Ich melde mich bei Facebook an, schaue auf Silvias Seite. Sie hat mehrere neue Schnappschüsse gepostet, sie zeigen alle Silvia und die beiden Mädchen, mit denen sie im Club war, vermutlich wurden sie sogar drinnen aufgenommen, denn im Hintergrund kann ich eine Bar ausmachen.
    Ich checke die Liste ihrer Freunde, zu denen mein Alter Ego Carl Mulisch jetzt gehört. Dann fällt mir etwas ein. Ich gehe auf Karens Seite, ihr Nachname stand in den Zeitungen. Natürlich ist sie ebenfalls auf Facebook gelistet, aber da ichsie nicht um ihre Freundschaft bitten kann, hilft mir das nicht viel.
    Facebook belehrt mich, dass Karen bestimmte Informationen nur mit ihren Freunden teilt. Immerhin ist ihre Freundesliste für jeden zugänglich. Ich öffne sie und vergleiche sie mit Silvias. Das ist eine Heidenarbeit, denn sie hat noch mehr Freunde als Silvia, über fünfhundert. Es wäre leichter, wenn ich beide Listen ausdrucken könnte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Vassilis hier oben nicht einmal einen Computer hat. Das WLAN hat er wahrscheinlich nur für sein Lokal einrichten lassen.
    Ich gehe also jeden Namen einzeln durch und finde dreißig Übereinstimmungen, achtzehn Mädchen und zwölf Jungen. Das ist sicher nichts Besonderes bei so vielen Freunden und in einer Kleinstadt wie Leyden.
    Ich suche nun wieder online nach Anne, aber ich finde nur bekannte Artikel über ihr Verschwinden und ihre Ermordung. Kann es sein, dass sie in gar keinem sozialen Netzwerk war?
    Ich vertiefe mich zum x-ten Mal in jeden einzelnen der Artikel, die ich gesammelt habe, und in die Artikel, derer ich online noch habhaft werden kann.
    Anne Martenstein war eine fleißige, begabte und beliebte Schülerin, die viele Freunde hatte. Sie war ein sozial denkender Mensch. Sie hatte Pläne. Nach ihrem Schulabschluss wollte sie für ein Jahr nach Afrika, um dort ein Praktikum in einem Krankenhaus zu machen. Danach wollte sie bei einer NGO -Organisation arbeiten.
    Am Abend ihres Mordes war sie im »Jensen« verabredet, verabschiedete sich aber um eins, angeblich, weil sie müde war und nach Hause wollte. Dort kam sie aber nie an. Die Polizei durchleuchtete ihren gesamten Freundes- und Bekanntenkreis und kam immer wieder zu demselben Ergebnis: Anne hatte keine Feinde. Es gab keine eifersüchtigen Rivalinnen und keine abgewiesenen Liebhaber, die auf Rache sannen, es gab überhauptkeinen festen Freund. Anne war nicht so, hieß es. Sie war zurückhaltend. Sie hatte feste Vorstellungen, wie Menschen sein sollten, wie ihr Leben sein sollte. Sie war ordentlich und organisiert und, lese ich zwischen den Zeilen, scheu.
    Vielleicht sogar ein bisschen langweilig.
    Nichts davon ist hilfreich. Aus reiner Ratlosigkeit google ich ihren Namen erneut, gehe von Seite zu Seite, aber es tauchen immer wieder die gleichen Artikel auf.
    Und dann entdecke ich endlich einen Blog von jemandem, der sich Felidae nennt, der lateinische Name für Katzen. In der Betreffzeile taucht auch der Name Anne auf, und ich klicke felidae.com an.
    Felidae.com ist eine Art Online-Tagebuch. Die Sprache ist jung und will lässig und ironisch sein, liest sich aber eher holprig. Es gibt viele Fotos, aber keines von der Verfasserin, falls es sich überhaupt um ein Mädchen handelt. Menschen sind überhaupt keine zu sehen. In der Hauptsache handelt es sich um dunkle Landschaftsaufnahmen, Schwarz-Weiß-Fotos von Blumen, sorgfältig arrangierte, düstere Stillleben – eines zeigt tote Fliegen neben halb verschimmeltem Brot, dazu eine Karaffe mit einer blutrot eingefärbten Flüssigkeit. Auf einer Collage aus Zeitungs- und Magazinfotos sieht man einen Soldat mit bösem Blick und geschultertem Gewehr, dahinter weinende Kinder. Alles bedeutungsvoll und trist.
    Dazwischen stehen undatierte Texte, die wie Briefe abgefasst sind – mit »Liebe/r XY « am Anfang und einer konventionellen Grußformel zum Schluss. Ich lese sie nicht, ich suche nur nach dem Namen Anne.
    Es dauert mehrere Minuten, bis ich den Brief finde, der an sie gerichtet ist. Die Anrede lautet »Meine geliebte tote Freundin«, und in diesem Moment ahne ich, dass ich eine Spur habe, auch wenn sie so zart und fadendünn ist wie die von Vogelfüßchen im Schnee.

19
    meine geliebte tote freundin, ich habe dich zum ersten mal gesehen, als du

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