Das Falsche in mir
wirft mir ein uraltes zerlesenes Taschenbuch mit kyrillischer Schrift auf einem reißerisch gestalteten Einband in den Schoß.
»Nuri Bey und Kapitän Michalis«, sagt Vassilis und setzt sich wieder neben mich. Er nimmt das Buch von meinem Schoß und tippt darauf. »Nikos Kasantzakis.« Er sagt etwas auf Griechisch, wahrscheinlich den Buchtitel. »Ein Türke und ein Grieche. Eigentlich Todfeinde. Aber sie waren zusammen aufgewachsen und hatten sich Blutsbrüderschaft geschworen, um sich als Erwachsene nicht umbringen zu müssen.«
Ich klicke Nuri Michalis an und dann ihre öffentlich zugängliche Freundesliste. Einen weiteren Hinweis auf die wahre Identität gibt es nicht. Also wissen wir nicht, ob Nuri Michalis identisch ist mit Anne Martenstein. Sie oder er hat nur 88 Freunde. Wir gehen gemeinsam jeden einzelnen Namen durch. Dann suchen wir nach Übereinstimmungen mit Karen und Silvia.
Es gibt einen Namen, der alle drei verbindet.
Leander Kern.
Jemand gibt ihr zu essen, etwas Süßes, Sahniges. Sie schlingt es herunter, leckt sich die Lippen ab, denn sie hat ja immer Hunger und schon lange nichts Genießbares mehr bekommen. Sie hört die Männer um sie herum lachen.
»Mehr«, sagt sie mit schwacher Stimme.
Die Männer lachen wieder. Und dann machen sie sich über sie her. Sie kann nicht sagen, wie lange es dauert, aber es ist eine Ewigkeit.
Jemand lässt etwas, das sich wie warmes Öl anfühlt, auf ihre Scheide tropfen, und sie macht sich gefasst auf den schrecklichen Schmerz, der sie wie ein Pfeil durchstoßen wird.
Sie wimmert »Bitte nicht«, aber das macht sie nur noch rasender.
»Schrei um Hilfe, so laut du kannst!«, keucht einer, und sie tut es, sie schreit um Hilfe in dem Bewusstsein, dass niemand sie hören wird, der ihr tatsächlich helfen könnte, dass sie damit im Gegenteil alles nur noch schlimmer macht.
Der Pfahl, der in sie dringt, scheint zu glühen, scheint sie zu durchbohren. Sie schreit und schreit und merkt, dass sich dieser Schrei gut anfühlt. Er kommt tief aus ihrem Inneren, und als sie einmal damit angefangen hat, kann sie gar nicht mehr aufhören, auch dann nicht, als sich der Pfahl aus ihr zurückgezogen hat und ein Meer von Schmerzen hinterlässt.
Jemand muss sie schütteln und heftig ohrfeigen, damit sie wieder ihren Mund hält, still und folgsam wird und höchstens leise weint.
In diesem Moment verrutscht ihre Augenbinde. Bevor sie etwas sehen kann, wird sie wieder festgezurrt, aber ein Stückchen Stoff, das sie in die Augenhöhlen der Maske geklebt haben, hat sich gelöst, und das kann man offenbar von außen nicht sehen. Sie kann jetzt mit dem linken Auge durch einen winzigen Schlitz schemenhafte Gestalten erkennen. Als man sie grob auf den Bauch wirft, kann sie den Stoff ganz entfernen. Sie wundert sich über ihren eigenen Mut. Und dann wieder gar nicht, denn was könnte ihr schon passieren, wenn man es merkt? Sie ist doch ohnehin dem Tod geweiht. Wer so etwas mit sich machen lässt, hat kein Recht mehr auf Leben.
Es vergehen mehrere Stunden oder Minuten, sie kann es nicht sagen. Das kann sie nie. Die Zeit dehnt sich und zieht sich zusammen, sie macht, was sie will, wie auch die Männer machen, was sie wollen.
Sie erkennt, wie unglaublich stark der Wille ist, böse zu sein, sich keine Fesseln auferlegen zu lassen, all das zu tun, das man sich bisher nur in seinen Träumen getraut hat. Sie selbst spielt dabei keine Rolle. Jedes Mädchen in ihrem Alter könnte hier liegen, sie ist absolut nichts Besonderes, jederzeit ersetzbar.
Manchmal wird ihr das im Flüsterton angedroht, und bisher war sie immer ängstlich genug, um ganz brav zu sein. Aber heute ist etwas mit ihr passiert. Dieser Hilferuf hat etwas in ihr freigesetzt, das sich nicht mehr zurückdrängen lässt.
Ihr ist der Tod jetzt egal und auch die damit verbundenen Qualen sind ihr egal. Das Schlimmste ist ihr schon passiert, es kann nichts Schlimmeres mehr kommen.
Sie sieht, dass es dämmert und dann ganz dunkel wird und Kunstlicht angemacht wird. Sie erkennt zehn oder zwölf Männer in dunklen Jogginganzügen. Sie tragen Masken aus Mickymaus-Comics. Unwillkürlich macht sie die Augen zu. Das ganze Theater mit dem Augenverbinden war überflüssig, sie hätte sie sowieso nicht erkannt. Also veranstalten sie diese Maskerade nicht für sie, sondern für sich selbst.
Sie wollen sich amüsieren.
Sie finden es lustig.
Es erregt sie.
Es ist ein Spiel für sie, mehr nicht.
Sie werden danach wieder in ihr
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