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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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merkt, wie sie leidet.
    Mir ist das egal.
    Sie sitzt den ganzen Tag zu Hause und hat ihre »Ladyslunches« und ihre »Bridgeabende«, und dann beschwert sie sich darüber, dass nichts einen Sinn hat.
    Das ist so GESTÖRT.
    Heute früh hat sie gesagt, ich soll nicht so krumm dasitzen. »Da kriegt man ja gleich schlechte Laune.«
    Wieso macht sie das? Und wieso sage ich dann nicht: »Ich sitze, wie ich will«? Stattdessen fange ich an zu weinen, und dann kommt Mama mit ihrem falschen Trostgesicht und legt ihre Arme um mich.
    Ich HASSE es, wenn sie das macht. Sie riecht nach Lavendelseife von Roger & Gallet, und diesen Geruch kann ich nicht AUSSTEHEN.
    Ich schiebe sie weg und stehe auf und machemich fertig für die Schule. Aber dann kommt Sophie in die Küche und sieht sofort, dass ich geweint habe und sagt: »Was ist denn JETZT wieder los?«, als würde ich ihr pausenlos auf die Nerven gehen, dabei sieht sie mich fast nie.
    Ich will sagen, lass mich in Ruhe, aber stattdessen fange ich schon wieder an zu weinen. Der Tag liegt vor mir wie ein dunkles Meer mit hohen Wellen voller Schaumkronen, und ich muss durchschwimmen, obwohl unter Wasser weiße Haie und was weiß ich noch auf mich warten.
    Jetzt ist der Tag vorbei und war nicht so schlimm. Aber was ist das für ein Leben, das nicht so schlimm ist?
    …
    Ich gehe an Papas Arbeitszimmer vorbei und höre Mama schluchzen, aber ich gehe nicht hinein und frage nicht, was los ist.
    7. März 1976
    Ich frage mich, ob es andere Menschen – Mädchen – gibt wie mich, die sich auch immer so fühlen, als wären sie falsch. Ich bin überall falsch. Und alle merken es. Die Leute schauen mich an, als wäre ich komisch. Es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand sagt: »Guck doch nicht so.« Ich gucke komisch. Und wenn einem das andauernd jemand sagt, dann weiß man nicht mehr, was richtig ist. Ich weiß nicht, was richtig ist, wie man sich richtig benimmt. Oder was man tun soll, damit die anderen nicht merken, dass man falsch ist. Manchmal wünsche ich, dass mir jemand den Trick verrät, wie man richtig wirkt.
    Sodass m an nie m ande m auffällt.
    …
    Eine Maske, die man nicht als Maske erkennt. Oder eine Tarnkappe. Dann ist man zwar unsichtbar. Das ist aber noch besser, als dauernd aufzufallen, weil etwas mit einem nicht stimmt.

2
    Am nächsten Morgen frühstücken wir um halb sieben und anschließend zappen wir uns online durch die Morgenmagazine der unterschiedlichen Sender. Das ganze wichtigtuerische Wortgeklingel der Journalisten und ihrer Interviewpartner von der Polizei lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Karen wird weiterhin gesucht, und man hat keine Ahnung, wo sie ist und was ihr passiert ist.
    Leander Kerns Facebookseite gibt nichts preis, solange man nicht mit ihm befreundet ist. Wir müssen einen Plan machen, wie wir weiter vorgehen. Eine Freundschaftsanfrage unter meinem Pseudonym Carl Mulisch habe ich bereits losgeschickt. Bis dahin bleibt Leander Kern, der sowohl mit Anne als auch mit Silvia als auch mit Karen befreundet ist, ein Phantom. Sein Profilfoto zeigt nur eine dunkelrote Rose. Eine Google-Recherche ergibt, dass »leanderkern« der Name eines Gothic-Albums ist. Eine reale Person namens Leander Kern finden wir nicht. Ich gehe also davon aus, dass es Leander nicht gibt, dass er sich unter einem Pseudonym eingeschlichen hat, so wie ich.
    Diese Erkenntnis elektrisiert mich.
    Wir sitzen an meinem Laptop, meiner einzigen Verbindung zur Außenwelt. Es ist mittlerweile acht Uhr und Vassilis muss seinen Imbiss öffnen. Er muss heute nicht zum Markt, aber er erwartet Lieferanten.
    Vor mir liegt ein weiterer Tag, an dem sich vielleicht wieder nichts ereignen wird. Nur in mir tobt ein Sturm, angefacht von einer Ahnung, die ich nicht weiterverfolgen will, obwohl ich das unbedingt müsste.
    Es gibt keine echten Fotos von Leander Kern auf den Facebookseiten von Anne, Silvia und Karen. Leander Kern hat sich auch sonst nirgendwo öffentlich verewigt, weder mit einem Kommentar noch mit einem »Gefällt mir«. Ich google noch einmal seinen Namen – ohne Ergebnis. Leander Kern ist stummer Beobachter.
    Er mischt sich nicht ein, er sieht zu.
    Den Rest der Zeit warte ich, dass er sich meldet und meine Freundschaftsanfrage bestätigt. Ich überlege, ob er jetzt gerade vor seinem Computer sitzt und über dieser Anfrage brütet, was bedeuten würde, dass wir jetzt, in diesem Moment, in Verbindung stehen. Vielleicht überprüft er in diesem Moment meine Facebookseite.

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