Das Falsche in mir
Vielleicht ist er bereits misstrauisch und meldet sich nicht.
Vielleicht ist ihm auch die Polizei bereits auf den Fersen.
Ich fühle mich beobachtet, obwohl das absurd ist. Aber trotzdem kommt es mir so vor, als könnte er mich sehen.
Vassilis kommt herein und bringt einen Teller Gyros mit Tsatsiki und Pitabrot.
Ich bedanke mich. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich unglaublichen Appetit. Ich mache mich über das Fleisch her wie ein Verhungernder. Nach kaum fünf Minuten ist der Teller so sauber, als hätte ich ihn abgeleckt. Ich stehe auf und spüle ihn ab. Ich habe immer noch Hunger und sehe im Kühlschrank nach, aber der ist bis auf eine ekelhaft stinkende Käserinde leer und sieht innen auch sonst nicht besonders appetitlich aus.
Vassilis ist längst wieder unten, ich höre ihn mit seinen Gästen reden und lachen, als hätte er keinen Mann in seiner Wohnung sitzen, nach dem ein ganzes Land fahndet.
Ich rauche und denke nach. Ich sehe aus dem Fenster. Es schneit und schneit. Die Flocken reflektieren das schwache Tageslicht, sodass es draußen heller wirkt, als es ist. Aber schon um halb vier ist es vorbei mit dieser optischen Täuschung.Wieder bricht die Dämmerung herein und eine Stunde später ist es dunkel.
Ich nehme ein Bad. Die Erkältung hat nachgelassen, ich fühle mich jetzt fast gesund, und das Herumsitzen geht mir auf die Nerven.
Sollte Leander Kern oder wie auch immer er wirklich heißt etwas mit dem Mord an Anne und der Entführung von Karen zu tun haben, dann wird er kaum Interesse an einem jungen Mann namens Carl Mulisch haben, dessen Namen er nicht einmal kennt.
Wenn, dann müsste man ihn mit einem Mädchen ködern, das in sein Beuteschema fällt.
Ganz kurz überlege ich, ob es sinnvoll wäre, jetzt die Polizei einzuschalten, die die Möglichkeit hätte, die IP -Adresse von Leander Kern herauszufinden. Aber dafür habe ich natürlich viel zu wenig in der Hand. Nur den vagen Verdacht eines Mannes, der sich mit seiner Schuld nicht abfinden will. Und wer garantiert, dass Leander Kern kein Hacker oder Programmierjunkie ist, der seine Spuren im Netz so gekonnt verschwinden lassen kann, dass jede Ermittlung sinnlos ist?
Abends bringt Vassilis ein neues Notebook mit, damit wir meins nicht mehr benützen müssen, um online zu gehen, was nicht nur mich, sondern auch ihn in Gefahr bringen würde.
Wir sitzen bis tief in die Nacht vor dem Gerät und richten es ein. Das ist mühsam, weil wir uns beide nicht besonders gut auskennen, aber zum Schluss funktioniert es. Ich überlege, ob Birgit der Polizei überhaupt erzählt hat, dass ich einen Laptop besitze. Mir wird langsam klar, dass sie es möglicherweise nicht getan hat, weil sie mich sonst wohl schon aufgespürt hätten – gerade in den letzten beiden Tagen war ich oft unvorsichtig und viel zu lange im Netz unterwegs.
Warum hat sie mich geschont? Solidarität aus Gewohnheit? Weil ich der Vater ihrer Kinder bin? Aus Trotz gegenüber der Polizei?
Zum ersten Mal in der ganzen Zeit denke ich darüber nach, wie es Birgit geht, ob sie einigermaßen über die Runden kommt, ob sie mich hasst oder ob sie zumindest in Erwägung zieht, dass ich diesmal nicht der Täter war. Ich habe mir in den letzten Wochen viele Sorgen um Teresa und Kira gemacht, mich haben entsetzliche Gewissensbisse bis in meine Träume verfolgt, aber Birgit blieb dabei außen vor.
Ich erkenne erst jetzt in aller Deutlichkeit, dass unsere Beziehung nicht nur endgültig zerstört ist, sondern dass sie nie wirklich bestanden hat. Ich habe keine Ahnung, was Birgit für ein Mensch ist, weil es mich nie wirklich interessiert hat, und das Gleiche gilt wahrscheinlich für sie.
Wir haben nebeneinanderher gelebt, es hat funktioniert, und mehr haben wir vielleicht beide nicht gewollt.
Oder hat sich Birgit nur damit abgefunden, nicht mehr von mir zu bekommen?
Was mich betrifft: Ich schäme mich, aber Birgit war für mich nie viel mehr als ein Mittel zum Zweck, eine attraktive, intelligente Frau, die mir ermöglichte, eine unauffällige Tarnexistenz zu führen und gleichzeitig in Ruhe gelassen zu werden.
Ein Mann, der mit einer emotional gefestigten Partnerin wie ihr verheiratet war, konnte gar keinen Verdacht auf sich ziehen: Das war mein unbewusstes Kalkül, und viele Jahre ist es aufgegangen.
Vassilis und ich gehen um vier Uhr morgens schlafen. Wir haben nichts über Leander Kern herausgefunden. Es wird Zeit zu handeln.
Wenn sie sich fragt, wer bin ich, gibt es keine Antwort mehr:
Weitere Kostenlose Bücher