Das Falsche in mir
Das ist, neben all den schrecklichen körperlichen Unannehmlichkeiten, die grausamste Veränderung.
Ihre Persönlichkeit existiert nicht mehr. Sie ist jemand, der so verachtet wird, dass man ihn allen möglichen Qualen unterziehenkann. Sie hat keine Vergangenheit und keine Zukunft, keine Meinung, keinen Charakter. Sie ist wie eine Pflanze, nur noch am puren Überleben interessiert, doch wenn sie jemand nach dem Warum fragen würde, wüsste sie keine Antwort.
Es hat ja nichts mehr einen Sinn. Sie kann noch sprechen, sie kann denken, sie weiß noch einige Dinge, die in der Außenwelt wichtig sind (allerdings hier nicht die geringste Bedeutung haben), aber dennoch ist sie ein im Grunde vollkommen hirnloses Geschöpf, nur noch ein Gefäß für die Wünsche und Begierden ihrer Peiniger, nach deren Beweggründen sie sich nicht mehr fragt. Sie hat ihren eigenen Namen fast vergessen. Manchmal murmelt sie ihn vor sich hin, aber er löst nichts mehr aus. Er ist aller Assoziationen entkleidet, nur noch eine Abfolge von Buchstaben, von aneinandergereihten Lauten, die nichts bedeuten.
Nun sitzt sie wieder eine nicht schätzbare Zeit lang in ihrem lichtlosen Verlies, beschmutzt und einsam, beschämt und gleichzeitig über jede Schamgrenze hinaus. Ihr Verlies und sie, beides wird immer mehr zu einer schwer definierbaren Einheit. Wenn sie an den Wänden kratzt, den Geruch nach Schimmel einatmet, ist es, als wäre sie selbst die Wände, der Schimmel, die Feuchtigkeit und Kälte um sie herum.
Sie hat keine Grenzen mehr, ihr Umfeld hat sie sich einverleibt, und sie wird Teil davon.
Sie schabt mit dem Rücken an der Wand. Immerhin spürt sie ein hartnäckiges Jucken, also ist sie noch nicht tot.
Am Anfang hat sie versucht, sich Rechenaufgaben zu stellen. Sie ist – auch das hat sie in Filmen gesehen und in Büchern gelesen – durch ihre Zelle marschiert, hat sie auf diese Weise abgemessen (fünf Schritte nach vorne, drei nach rechts und links haben gereicht) und sich fit gehalten. Zumindest hat sie sich das eingebildet.
Jetzt bewegt sie sich nur, wenn ein körperliches Bedürfnis sie dazu zwingt. Sie hört, wenn ihr das Essen durch eineKlappe dicht über dem Boden hereingeschoben wird, und tastet sich zu dem Teller, der aus Metall besteht, wahrscheinlich damit sie ihn nicht zerbrechen und größere Scherben als Waffe benützen kann – gegen sich oder andere. Das Essen besteht immer aus belegten Broten – Wurst und Käse, immer dieselben Sorten.
Eine kleine Plastikflasche mit lauwarmem Wasser gibt es dazu. Sie hört sie auf den Boden fallen, mit einem dumpfen Geräusch. Der Teller wird dagegen sorgfältig abgestellt.
Natürlich hat sie schon versucht, durch die Klappe zu schauen.
Dunkelheit, sonst nichts.
Ein Geruch nach feuchtem Holz, den sie in ihrem Verlies nicht feststellen kann: Sie befindet sich in einem Keller, vielleicht in einem Mietshaus mit Kellerabteilen, deren Wände aus Holz sind. Aber sie hört nie jemanden sprechen oder herumlaufen, also kann es kein Mietshaus sein, es sei denn, ihr Verlies ist so bombensicher abgedichtet, dass kein Geräusch durchdringen kann.
Sie hat das Raten aufgegeben.
3
Teresa geht zur Schule, langsam und allein. Kira liegt im Bett und hat Fieber. Kira kann echtes Fieber produzieren, wann immer sie Lust dazu hat, sie muss nicht das Thermometer an die Heizung halten. Teresa beherrscht diesen Trick nicht. Und ihre Mutter weigert sich, sie schon wieder einfach so krankzumelden. Sie will, dass alles wieder normal wird.
Dabei weiß sie, dass nichts mehr normal werden wird. Sie könnten nach Timbuktu oder in die Arktis auswandern, es würde nichts ändern. Ihr Vater ist ein verurteilter Mörder auf der Flucht, ihr Leben ist eine Achterbahn, auf der es nur bergab geht.
Irgendwann werden sie unten ankommen, ganz weit unten, aber wo wird das dann sein? Wo ist ganz unten?
Auf Rat des Schulpsychologen hat Teresa ihren Facebookaccount geschlossen. Ihre E-Mail-Adresse haben nur noch ein paar enge Freundinnen, ihre Handynummer hat sie in eine Geheimnummer geändert.
Das hat wenig genützt.
Nun kommen anonyme Mails. Splatterfilme werden ihr empfohlen, in denen ihr Vater angeblich das Monster spielt (»hab ihn gleich erkannt lol«), oder perverse Anträge an die »Tochter des Teufels« gestellt. Auch ihre geheime Handynummer ist längst nicht mehr geheim. Stöhnanrufe von abartigen Spinnern sind an der Tagesordnung. Teresa hat ihre Mailbox ausgeschaltet und hebt nur noch ab, wenn sie die
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