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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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etwas auf meine Seite gepostet – die Seite, die alle meine Freunde sehen können.
    du bist nicht carl mulisch. Daneben ein animierter Smiley, der mit den Zähnen klappert.
    Ich sitze an Vassilis’ Computer, als diese Botschaft aufploppt. Ich springe auf und gehe zum Fenster, betrachte zum hundertsten Mal in den letzten Tagen die Straße unter mir. Morgen ist Mittwoch, morgen Abend werde ich vor Silvia Johanssons Wohnung warten. Sie ist mein Köder. So hatte ich mirdas ausgedacht, aber jetzt sehe ich, dass Leander weiß, wer ich bin.
    Was bedeutet das? Wie kann ich weiter vorgehen, wenn er offensichtlich schon wieder einen Schritt vor mir ist? Ich klicke auf die Onlineseite unserer Tageszeitung, und die Titelzeile springt mich an.
    K AREN B ECK T OT .
    Vassilis kommt um Mitternacht und macht Kaffee für uns beide. Wir trinken und sehen uns dabei nicht an. Sie haben Karen Beck in einem Garten gefunden, fast steif gefroren, mit tiefen Schnittverletzungen. Wieder sieht es so aus, als sei der Besitzer des Gartens nicht verdächtig.
    Wieder das Foto von mir als dem Hauptverdächtigen. Ich hasse dieses Foto, das einzige, das von mir in Umlauf ist, meinen kalten, ungerührten Blick, das halbe Lächeln in meinen Mundwinkeln, als würde ich mich lustig machen über den Schmerz der Eltern, der Geschwister, der Freunde, der Lehrer, der Schulkameraden. Und natürlich auch über den Schmerz des Opfers.
    K ARENS QUALVOLLER T OD: K ANN DIESER M ANN DAS M ONSTER SEIN?
    »Wo warst du gestern Abend?«, fragt Vassilis. Ich verstehe ihn erst nicht.
    »Hier, das weißt du doch.«
    »Das weiß ich nicht. Ich war unten.«
    »Ich war hier.«
    Vassilis’ Augenbrauen sind zusammengezogen, eine tiefe Furche hat sich zwischen ihnen eingegraben, er starrt auf seine Tasse, nippt ab und zu. Er sieht älter aus als noch vor ein paar Tagen, als wir uns kennengelernt haben, als er mir die Freundschaft angeboten hat – der erste Mann in meinem Leben, der das getan hat.
    Und ich habe ihn bisher nur enttäuscht.
    »Man hat dich gesehen«, sagt er.
    »Das kann nicht sein.«
    Aber bin ich mir wirklich sicher? Ist es nicht so, dass die Tage derart in meiner Erinnerung verschwimmen, dass ich manchmal gar nicht mehr unterscheiden kann, was Fantasie und was Wirklichkeit ist? Ich versuche, den gestrigen Tag zu rekonstruieren, aber in meinem Kopf ist Chaos, als würde schon allein Vassilis’ Verdacht alles in mir durcheinanderbringen.
    »Wer hat mich gesehen?«
    »Ein Gast.«
    »Was hat er gesagt?«
    »›Gerade eben hat mich ein Mann fast umgerannt. Er kam aus der Haustür nebenan.‹«
    »Das hat er gesagt?«
    »Und dass der Mann eine schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen und einen Schal getragen hat.«
    »Jeder trägt jetzt Mütze und Schal! Es ist kalt!«
    »Woher weißt du das, wenn du nicht draußen warst?«
    Ich möchte aufstehen und gehen, aber ich kann nicht. Wieder warte ich darauf, dass Vassilis zum Telefon greift, die Polizei anruft, mich verrät.
    Vielleicht hat er es schon getan. Vielleicht stehen sie schon unten, behelmt, in schwarzer Schutzkleidung, schwer bewaffnet, und warten nur noch auf den Befehl.
    Zugriff.
    Aber ich höre nichts.
    »Bitte …«, sage ich.
    »Ja?« Vassilis’ Stimme klingt streng und gleichzeitig angstvoll, als warte er auf mein ultimatives Geständnis.
    »Ich war hier. Ich schwöre es. Gib mir …«
    »Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Du bist ein merkwürdiger Mann.«
    »Bitte …«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Gib mir noch eine letzte Chance.«
    Morgen ist Mittwoch. Morgen werde ich vor Silvia Johanssons Wohnung warten und hoffen, und wenn morgen nichts passiert, werde ich Donnerstag das Gleiche tun. Sie ist mein Köder und meine letzte Chance.
    Aber das alles wird nicht helfen, wenn ich weiterhin Angst habe, mich in Leander Kerns Gefühlswelt zu vertiefen. Wenn ich nicht Leander Kern bin, muss ich jetzt zu ihm werden, ich muss ihn begreifen als den Menschen, der er ist. Jemand, der mir seelenverwandt ist. Jemand, dessen Wahn meinem eigenen zum Verwechseln ähnlich ist.
    Wenn es Leander Kern gibt, dann imitiert er nicht einfach nur meine Vorgehensweise, dann lässt er sich von denselben Begierden leiten, die mich quälen. Das ist meine Chance. Meine einzige. Ich muss fühlen, was er fühlt, denken, was er denkt.
    Ich stelle meine Kaffeetasse auf den Tisch. Vassilis stellt seine gegenüber, steht auf und geht grußlos in sein Schlafzimmer.
    Ich spüle beide Tassen ab und stelle sie auf das

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