Das Falsche in mir
Befehle sind kalt und herzlos wie eh und je, aber sie klingen hektischer als sonst.
Als gäbe es eine Bewährungsprobe.
Sie fahren eine andere Strecke, das ist das Nächste, was ihr auffällt. Oder vielleicht bildet sie sich das auch nur ein, weil da eine idiotische Hoffnung ist.
Wenn etwas anders ist, kann es nur besser sein.
Weil sie sich nicht vorstellen kann, dass es noch schlimmer wird.
Sie soll sich irren.
Sie biegen ein letztes Mal ab, aber es gibt keine Schotterpiste, sondern die Straße bleibt glatt. Der Wagen hält. Sie hat sich diesmal nur einmal übergeben müssen und nimmt das als ein gutes Zeichen. Die Autotür neben ihr öffnet sich, die eindringende Luft ist warm und frisch.
Sie atmet tief. Ein, aus, ein, aus.
Jemand packt sie grob am Arm und zerrt sie wortlos aus dem Wagen, dass sie beinahe stolpert. Sie gehen und sie spürt die Sonne auf ihrem gewaschenen weichen Haar. Vielleicht ist sie jetzt schön. Aus irgendeinem Grund freut sie das, obwohl es doch gar keinen Unterschied macht.
Ich bin schön.
Sie lächelt. Sie strahlt mit der Sonne um die Wette.
Dann ist da eine Tür und sie sind in einem Haus, das sich kühl, hoch und weit anfühlt. Vielleicht ein Schloss? Es ist ein Schloss und sie ist die Prinzessin!
Wieder lächelt sie.
Sie wird weitergeführt und auf einen Sessel gedrückt. Der Sessel ist aus Veloursleder. Sie streicht über die weiche, leicht angeraute Oberfläche, hin und her, hin und her.
Minuten vergehen, nichts passiert. Sie sinkt immer weiter in den Sessel, kuschelt sich schließlich zusammen und schläft ein, sanft und süß wie ein Baby. Sie ist glücklich, so glücklich.
Dann wird sie geweckt, ganz sanft. Eine Männerhand streicht ihr über die Wange, schiebt ihr einen Finger in den Mund, und sie, noch schlaftrunken, lutscht brav daran, weil sie weiß, dass Männer das mögen, jedenfalls diese Art Männer. Eine andere Hand greift ihr in die Haare, in ihren nun wieder sorgfältig geschnittenen blonden Pagenkopf, streichelt ihren Nacken.
Reißt ihr den Kopf nach hinten, dass ihre Halswirbel knacken, und nun ist sie wieder ganz wach, schicksalsergeben.
Das Spiel geht wieder los.
Aber diesmal ist es nur ein Mann, soweit sie das beurteilen kann. Ein Mann, der Chef.
Der Chef von wem?
Aber sie kommt nicht mehr dazu, nachzudenken, denn jetzt geht alles Schlag auf Schlag, und das ist wörtlich zu nehmen. Der Mann, er fühlt sich groß und kräftig an, hebt sie hoch, stemmt sie hoch und lässt sie fallen. Kopf, Rücken und Beine knallen auf den Boden. Sie bleibt liegen, stumm, regungslos. Vielleicht ist das der Tod.
Alles, was jetzt passiert, nimmt sie nur noch vage wahr, mit zunehmender Gleichgültigkeit. Wenn einem alle Knochen auf einmal gebrochen werden, werden andere Schmerzen geradezulächerlich nebensächlich. Abgesehen davon ist sie das meiste ohnehin gewöhnt.
Die Vergewaltigungen mit Gegenständen, die sie nicht identifizieren kann, der heiße Pfahl, der alles malträtiert, was an eine Öffnung auch nur entfernt erinnert, die Schläge, das Stöhnen. Dazu – das allerdings ist neu – läuft Musik, glorios-heldische Musik von orchestraler Wucht, so laut und umfassend, als gäbe es zehn Lautsprecherboxen in diesem Raum.
Sie schreit und weint in die jauchzenden Streicher, die donnernden Trompeten, den wilden, aufpeitschenden Rhythmus.
Und dann spürt sie etwas an ihrem Bauch, ihrem Busen, das neu ist. Es ist kalt und scharf. Ein Messer. Es ritzt sie an der Haut, ein scharfer Schmerz, der noch grauenhafter ist als alles, was sie bisher erlebt hat. Denn jetzt erreicht ihr Peiniger ihr Inneres. Nun gibt es nichts mehr, was sie schützen kann.
»Willst du auch noch was?«
Sina schüttelt den Kopf, betäubt, benommen.
Es ist sehr spät, mindestens halb zwei. Meret Giordano winkt dem Kellner und bestellt sich einen Averna, mit ganz normaler Stimme. Das Licht im »Jensen« ist gedimmt, wie immer nach ein Uhr. Es ist Freitagabend, die ersten Gäste gehen jetzt, entweder ins Bett oder in den Club am Haager Weg.
»Wie wurdest du gerettet?«, fragt Sina und überlegt dann, ob die Frage zu früh kommt, ob sie Meret damit im Redefluss unterbricht, sie, die vielleicht noch viel Schrecklicheres erlebt hat, Dinge, über die sie noch mit niemandem geredet hat. Dinge, die ihre Jugend und ihr Erwachsenenleben überschatteten, weil sie nie Vergangenheit werden, immer gegenwärtig bleiben, bis in die Albträume hinein.
»Ich weiß es nicht mehr. Manchmal träume ich davon.
Weitere Kostenlose Bücher