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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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nachdenken. Morgen, aber nicht jetzt. Sie muss sich auf das andere konzentrieren, das, was sie erzählen kann und muss.
    »Hast du das noch nie jemandem gesagt?«, fragt Meret.
    »Keiner weiß davon. Meine Mutter …«
    »Sie wollte es nicht hören, stimmt’s?«
    »Nein.«
    »Meine auch nicht. Wenn ich davon angefangen habe, hat sie geweint. Dann hat sie mich zu einem Therapeuten geschleppt, damit ich es dort lasse. Damit ich nicht ihr hübsches, sauberes Haus schmutzig mache. Aber dem wollte ich erst recht nichts erzählen.«
    »Therapeuten sind Weicheier.«
    Sie lachen.
    Dann sagt Meret: »Mein Vater hat uns zwei Jahre später verlassen. Da saßen wir dann da, mein Bruder, meine Mutter und ich. Allein. Und sie haben mich beide spüren lassen, wer schuld an allem war.«
    »Hast du noch Kontakt zu deiner Familie?«
    »Nein. Mit der will ich nichts mehr zu tun haben.«
    »Meinen Vater kannte ich gar nicht«, sagt Sina. »Und meine Mutter hat mir nicht geglaubt.«
    »Weil es bequemer war.«
    »Eine Mutter sollte ihr Kind schützen. Dafür ist sie da.« Sina spürt den Hass Jahrzehnte später immer noch so intensiv wie damals.
    Und dann erzählt sie von den Maskenmännern, was sie mit ihr gemacht haben, und dabei fängt sie an zu weinen, aber sie hört trotzdem nicht auf zu reden, denn diese Gelegenheit wird sich nicht wiederholen. Sie muss es jetzt sagen, das eine Mal.
    Und dann nie wieder. Dann kann sie es in einen Müllsack packen und endlich wegwerfen, für immer, glaubt sie. Dann ist es nicht mehr in ihr, kann sie nicht länger vergiften. Dann ist sie frei. Und kann sich mit der anderen Sache beschäftigen.
    Meret hält ihre Hand, die ganze Zeit.
    Der Kellner kommt an ihren Tisch, weist sie schüchtern darauf hin, dass er sie abkassieren muss. Sina schnäuzt sich, lächelt. Es ist alles gut für den Moment. Und morgen wird sie anfangen, diesen Sumpf trockenzulegen, der Leyden mit seinen krank machenden Dämpfen verseucht, und das nun schon so viele Jahre lang.

9
    Sonntag. Ich bin die dritte Nacht unterwegs.
    Mittlerweile kenne ich den Hafen fast auswendig. Ich weiß, wo die Schiffe aus- und eingeladen werden und in welchen Hallen die Ausflugsdampfer überwintern. Der verwaiste Yachtanlegeplatz grenzt direkt an das Areal mit den kubenförmigen Containern, ein etwa ein Hektar großes Gebiet direkt am Flussufer. Die Container stehen in Reihen gestaffelt, zu je zweiundzwanzig Stück, ich habe nachgezählt. Es gibt fünfundvierzig Reihen. Ein weiter Weg.
    Ich laufe zunächst am Wasser entlang. Es riecht muffig nach Diesel und fauligen Fischresten und wirkt in der spärlichen Beleuchtung schwarz und glänzend wie Teer. Leander Kern ist hier irgendwo, ich bin mir jetzt sicher.
    Er ist ich. Wir sind eins. Ich bin jetzt in ihm. Es ist ein beinahe sexuelles Gefühl. Ich durchdringe seinen Geist, seine Gefühle. Zwischen uns gibt es keine Barrieren mehr. Ich folge ihm, seinen Gelüsten und Trieben.
    Die Ley plätschert friedlich an die Mole. An ein paar Stellen am gegenüberliegenden Ufer ist sie zugefroren, im Mondlicht kann man die matt schimmernden Eisinseln ausmachen, umgeben von dunklen Wasserwirbeln. Ich gehe an den Containern mit ihren grauen, geriffelten Wänden entlang, mustere jeden einzelnen. Ihre Rolltüren sind alle verschlossen, so wie gestern und vorgestern auch.
    Aber diesmal ist es anders, diesmal spüre ich Leander Kerns Gegenwart. Vielleicht verfolgt er mich, statt umgekehrt, aber er ist da, ich weiß es.
    Ich sehe durch seine Augen, höre, was er hört: das Rauschen des Verkehrs am Lessingdamm, das Gurgeln der Ley, ein bisschen Wind, der leise um die Ecken streicht wie ein Dieb. Seit etwa einer halben Stunde schneit es ganz leicht, der Boden ist bedeckt von hauchfeinen Flocken, die sich langsam zu einer dünnen Schneedecke fügen. Wenn ich durchlaufe, stieben sie auseinander wie Staub.
    Ich bin ein paar Momente lang wieder ein Kind, das sich auf Schnee freut. Schnee.
    Plötzlich bin ich woanders, ein Erinnerungsfetzen weht vorbei, streift mich fast, verflüchtigt sich wieder wie Rauch, aber etwas bleibt hängen.
    Ich stehe zwischen den Containern, der Eiswind hat aufgefrischt, bläst mir jetzt Schnee ins Gesicht. Ich wende mich ab, jetzt erreicht der Wind nur noch den schmalen Streifen meines Nackens, der nicht von Mütze und Schal geschützt ist.
    Die Erinnerung kommt zurück, hüllt mich ein. Ich bin acht, vielleicht neun Jahre alt, es ist Nacht, es ist kurz vor Weihnachten, und ich verfolge meinen

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