Das Falsche in mir
und durch. Kein Junge hätte sich in mich verlieben können, kein Mädchen hätte meine Freundin sein wollen.«
»Wer hat damals ermittelt? Von der Polizei, meine ich.«
»Ich kann mich an Gronberg erinnern, er war damals ganzjung.« Meret lacht kurz auf. »Er weiß es nicht mehr, glaube ich. Er hat jedenfalls nie etwas gesagt.«
»Das ist komisch«, sagt Sina. »An Salfeld hat er sich sehr wohl erinnert.«
»Ich habe geheiratet und den Namen meines Exmannes auch nach der Scheidung beibehalten.«
»Das hat Salfeld auch. Er hat den Namen seiner Frau angenommen. Eigentlich heißt er Kalden. Lukas Kalden.«
Aber gegen Salfeld wurde ermittelt, gegen Meret nicht. Es ist also verständlich, dass Gronberg sich nicht erinnert; Meret sieht jetzt bestimmt ganz anders aus als mit fünfzehn, und es gab keinen Anlass, sie zu überprüfen.
Diese Spur führt nirgendwohin. Oder? Hat Gronberg die Einträge in Merets Akte gelöscht?
»Was glaubst du, wie es wirklich war?«, fragt Sina.
»Was meinst du?«
»Warum haben sie dich gefunden?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Da sind so viele grässliche Details, die ich alle noch weiß. Nur das nicht.«
»Aber du hast eine Vermutung.«
»Ich wünschte, ich hätte eine.«
Sina nimmt Merets Hand und Meret legt ihre darauf. Sie sind jetzt zwei kleine Mädchen, die sich ewige Freundschaft schwören. Und das heißt, dass es jetzt an Sina ist, zu beichten, was ihr als Kind passiert ist.
Und dass einer der Maskenmänner ihr eigener Onkel ist.
Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, weil Merets Schicksal so viel schlimmer ist als ihr eigenes. Sie hofft, dass Meret nicht verächtlich abwinkt, sich vielleicht wieder verschließt oder Sina sogar hasst, weil einer der Täter mit ihr verwandt ist. Das wäre nicht logisch, aber Gefühle sind nicht logisch.
Sie gibt sich also Mühe, so sachlich wie möglich von ihremOnkel zu sprechen, dem Nachtmann und seinen Komplizen, mit ihren lustigen, unheimlichen Mickymaus-Masken. Das Lokal leert sich langsam, die Sperrstunde rückt näher, aber die beiden Frauen merken nichts davon.
Sina schließt die Augen, vergegenwärtigt sich das Schlafzimmer des Onkels, sieht die schmuddelige, violett geblümte Bettwäsche vor sich, die nach den Ausdünstungen eines ungepflegten Mannes roch.
Schweiß und Sperma und Schmutz.
Dann die Maskenmänner, die sich in dem Zimmer drängten, nur in diesem Zimmer übrigens, obwohl es so klein war und es ein größeres Wohnzimmer gab.
Meret hat allerdings von einem größeren Haus gesprochen. Sina rechnet nach und stellt fest, dass Merets Erlebnisse ein paar Jahre später stattgefunden haben müssen.
Erst machten sie es heimlich bei Sinas Onkel, dem Kinderzuhälter. Dann verfeinerten sie ihr Verbrechen, versteckten es nicht länger, zelebrierten es in einem angemessenen Rahmen.
Weil sie keine Angst mehr hatten.
War es so? Falls es so war, waren sie zu mächtig für die Polizei. Falls es so war, konnte niemand ihnen etwas anhaben.
Wem gehörte das große Haus, zu dem eine Schotterpiste führte? Wem gehörte das zweite Haus, in dem Meret mit ihrem Peiniger allein war? Und wem das Mietshaus, in dem Meret gefangen war? Bei dem Mietshaus musste sie anfangen. Die Adresse. Ohne die Adresse hat sie nichts in der Hand.
»Meret …«
»Finsterwalderstraße 189«, unterbricht sie Meret.
Eine Gänsehaut kriecht Sina den Nacken hoch, ihre Kopfhaut scheint sich zusammenzuziehen.
»Das ist die Adresse«, sagt Meret. Sie sieht vor sich auf den Tisch. »Die wolltest du doch wissen.«
»Bist du sicher?«
»Ich wollte es dir erst nicht sagen, weil ich dachte, es bringtnichts, es wühlt alles nur wieder auf.« Meret blickt auf, Sina nimmt ihre Hand, drückt sie kurz und lässt sie wieder los.
»Ich verstehe das.«
»Sei mir nicht böse.«
»Ich bin froh, dass du es dir anders überlegt hast.«
»Nützt dir das was, auch wenn das Haus nicht mehr steht?«
»Ja«, sagt Sina.
Finsterwalderstraße 189 war die Adresse ihres Onkels. Das Haus wurde ein Jahr nach seinem Tod abgerissen. Heute steht dort eine Gewerbeimmobilie aus Glas und Stahl.
Meret beugt sich vor, weil Sina plötzlich nicht mehr weiterredet, sondern vor sich hin starrt, mit gerunzelter Stirn und einem Blick, der an Panik grenzt.
»Du musst das nicht tun«, sagt Meret, die den Grund ihres Schweigens missversteht. »Es ist so lange her.«
»Doch. Es wird Zeit.«
Finsterwalderstraße 189. Sie darf jetzt nicht darüber
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