Das Falsche in mir
als er angerufen hat.«
»Warst du allein?«
»Ja, wir waren damals nachts ganz dünn besetzt. Sparmaßnahmen. Mein Kollege war auf Streife. Wir haben uns abgewechselt.«
»Ein Mann?«
»Der Anrufer? Ja. Tiefe Stimme, es hörte sich nach einem älteren Mann an. Hörte sich an, als hätte er getrunken.«
»Was hat er gesagt?«
»An den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern. Dem Sinn nach sagte er, dass im Keller der Finsterwalderstraße 189 ein Mädchen festgehalten werde. Er hat mir genau beschrieben, wo sich der Raum befindet.«
»Hast du ihm geglaubt?«
»Erst dachte ich, es ist ein Spinner. Aber es hörte sich nicht so an, als würde er Märchen erzählen, dafür waren die Angaben zu präzise und klar. Also habe ich beschlossen, dem nachzugehen, obwohl der Anruf anonym war.«
»In neun von zehn Fällen …«
» … rufen Leute an, die Scheiße im Hirn haben. Ja. Aber diesmal …«
»Was hast du dann gemacht?«
»Ich hatte keine Zeit für eine Fangschaltung, das war ja damals ein enormer Aufwand.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe meinem Kollegen über Funk Bescheid gesagt, er hat mich abgeholt, und wir sind zusammen zu der Adresse gefahren. Ohne Blaulicht und alles, wir wollten keinen Wirbel machen, falls es sich doch um einen Verrückten handelt.«
»Wie heißt dein Kollege?«
»Sten Marmaris. Du kannst ihn nicht mehr befragen, er ist vor zehn Jahren gestorben.«
»Gibt es noch die Aufzeichnung von dem Anruf?«
»Keine Ahnung. Vielleicht im Archiv. Aber sie müssen Akten nur fünfundzwanzig Jahre aufbewahren.«
»Ja«, sagt Sina mutlos.
Gronberg bläst den Rauch seiner dritten Zigarette an die Decke. Seine rechte Hand bebt ganz leicht, als er die Espressotasse zum Mund führt. Sina registriert das, aber es ist schwer zu sagen, ob das Zittern nervös ist oder rein körperlich bedingt, eine Folge von zu langen Nächten mit zu wenig Schlaf.
Sie schüttelt sich eine Zigarette aus seiner Schachtel, ohne zu fragen. Gronberg gibt ihr Feuer, wieder mit zitternder Hand.
»Was willst du eigentlich mit diesem uralten Fall?«, fragt er. »Nicht einmal Meret tust du damit einen Gefallen.«
»Das weiß ich noch nicht«, sagt Sina. »Vielleicht besteht eine Verbindung zu heute.«
»Das ist Blödsinn und das weißt du auch.«
»Woher soll ich das wissen? Wir ermitteln gegen einen Mann …«
» … der damals im Gefängnis gesessen hat. Salfeld hat nichts damit zu tun. Das sind zwei völlig unterschiedliche …«
»Das wird sich noch herausstellen.«
Gronberg beugt sich vor, fixiert Sina. Das Licht aus der Hängelampe über dem Küchentisch malt jetzt Krater unter seine Augen und macht seine tiefen, grämlichen Magenfalten noch auffälliger.
»Du willst nicht darüber reden«, stellt Sina fest.
»Es macht keinen Sinn. Und wir haben keine Zeit für diesen alten …«
»In der Finsterwalderstraße 189 hat mein Onkel gelebt. Es kann sein, dass er ein Komplize war.«
Gronberg weicht zurück, begreift langsam.
»Was weißt du?«, fragt er.
»Nicht mehr als du. Vielleicht nicht mehr als du. Die Maskenmänner haben auch mich missbraucht, nur Jahre früher. Ich war sechs. Verstehst du? Sechs! Und dann sieben, acht, neun. Zum letzten Mal mit zehn.«
»Das tut mir …«
»Ich muss jetzt wissen, wie das war, verstehst du das? Und es wird immer irgendeinen Fall geben, der gerade wichtiger ist. Irgendeinen Fall gibt’s immer, kapiert? Sexualdelikte sind eine Leydener Spezialität, ist dir das noch nie aufgefallen? Hier stinkt’s!«
Sina merkt, dass sie aufgesprungen ist. Sie lehnt jetzt an der Wand neben der geschlossenen Küchentür und etwas in ihr würde am liebsten … sie weiß auch nicht, was … vielleicht sich die Kleider vom Leib reißen, noch lauter schreien, mit Dingen um sich werfen, diese kleine, von Frau Gronberg stets gründlich geputzte Wohnung demolieren? Aus lauter Wut auf sich selbst, weil sie die Verbrechen nie gemeldet hat – nur um nicht dazustehen wie eine Versagerin, die sie doch gar nicht ist? Hat sie denn jemals geglaubt, sie sei die Einzige?
Wie konnte sie diese Schuld auf sich laden?
Die Schuld. Sie reißt ihr riesiges Maul auf und zermalmt alles, was gut ist in Sinas Leben.
Wenn sie geredet hätte, wäre Meret nie etwas passiert. Zu spät.
Sie setzt sich wieder hin, zündet sich die zweite Zigarette an. Gronberg steht nun seinerseits auf, öffnet das Küchenfenster, wedelt kalte graue Luft in den überhitzten, rauchgeschwängerten Raum. Ein paar Schneeflocken segeln
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