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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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herein, landen auf der polierten Spüle und dem blau geflammten Linoleum wie ein Gruß aus einer anderen Welt.
    »Warum hast du nichts gesagt?«, fragt Gronberg.
    »Ich dachte, ich bin die Einzige«, sagt Sina. »Ich dachte, er macht das, weil wir verwandt sind, weil ich leichte Beute bin. Er hat sonst keine Verwandten gehabt.«
    »Ist schon gut.«
    »Ich weiß, dass es falsch war.«
    »Ich mache dir …«
    »Ich weiß. Danke.«
    Sina sieht auf die Uhr. Gronberg wohnt nur knapp fünf Autominuten vom Präsidium entfernt. Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit.
    »Bitte«, sagt sie.
    Und Gronberg, sanft wie nie, sagt: »Was willst du wissen?«
    Sina setzt sich wieder hin. »Erzähl mir alles«, sagt sie. »Von dem Punkt an, an dem ihr den Kellerraum gefunden habt.«
    »Okay.«
    »Lass nichts aus.«
    »Du weißt nicht, was du da verlangst. Manchmal träume ich davon.«
    »Ich weiß, was ich verlange.«
    Gronberg lehnt sich zurück, weit zurück, dass sein Stuhl fast ins Kippeln gerät.
    Und dann lässt er alles wieder aufleben, Sina zuliebe, obwohl er immer noch nicht begreift, wozu das gut sein soll. Schlimme Dinge passieren, und dann muss man mit ihnen umgehen, aber anschließend muss man sie vergessen. Nicht faktisch, aber gefühlsmäßig.
    So lautet Gronbergs Mantra und so hat er dreiundvierzig Jahre Polizeidienst anständig hinter sich gebracht.
    Er schließt die Augen, vergegenwärtigt sich die Nacht vor einem Vierteljahrhundert. »Sten hat mich also abgeholt«, beginnt er, noch ein wenig hölzern, weil es schwierig ist, einen Albtraum in Worte zu fassen. Am liebsten würde er Sina einen Film zeigen – das, was ihn viele Nächte lang verfolgt hat: der Anblick Meret Johanssons, ihre verklebten Haare, deren Blond nicht mehr als solches zu erkennen war. Ihr schmutziges kleines Gesicht mit den erloschenen braunen Augen. Den schwarz angelaufenen Schneidezahn, der höllisch wehtun musste.
    Der Geruch nach Exkrementen und Erbrochenem, der einen fast umwarf und den das Mädchen nicht mehr wahrzunehmen schien.
    Und später die Fotos von ihr, die Ärztinnen in der Klinik von ihr gemacht hatten und die ihnen dann gezeigt wurden: blaue Flecken auf dem ganzen Körper, unnatürlich magere Arme und Beine, knochige Trichterbrust, graue Haut, die mit einem leichten Flaum bedeckt war – alle denkbaren Symptome massiver Unterernährung.
    »Wir haben monatelang ermittelt. In ihrem direkten und entfernten Umfeld, bei Verwandten, Lehrern, Freunden, Eltern von Freunden … Nichts.«
    »Nichts? Das ist …«
    »Sina, sie hat ja nie jemanden gesehen. Die Täter waren maskiert.«
    »Was war mit Fingerabdrücken? In dem Keller. An der Tür. Was war das für eine Tür?«
    »Eine schwere Feuerschutztür. Nebenan war der Heizungskeller. Der Raum hatte eigentlich keine Funktion. Niemand hat ihn benutzt. Sie haben ihn innen mit einem Material verkleidet, das ihn schalldicht machte. Das müssen Profis gewesen sein.«
    »Und Fingerabdrücke?«
    »Nur von ihr. Wahrscheinlich haben sie Handschuhe getragen.«
    »Warum haben sie das getan? Warum haben sie sie hungern lassen? Es wäre viel sinnvoller gewesen, sie gut zu ernähren, zu pflegen, sie sauber zu halten.«
    »Sie wollten ihren Willen brechen, schätze ich«, sagt Gronberg. »Es gehörte zum Spiel dazu.«
    »Habt ihr meinen Onkel vernommen?« Sina versucht, die Frage sachlich und ohne besondere Betonung zu stellen.
    »Wie heißt er?« Gronberg sieht sie nicht an.
    »Rastegar«, sagt Sina. »Martin Rastegar.« Ihre Kehle wird trocken, als sie den verhassten Namen ausspricht.
    »Wir haben Hunderte vernommen. Aber an einen Rastegar kann ich mich nicht erinnern. Es gab natürlich eine Sonderkommission– wahrscheinlich hat ihn jemand anders befragt. Wenn er in dem Haus gelebt hat, wo sich der Tatort befand, ist ganz sicher jemand bei ihm gewesen.«
    »Er war der Mittelsmann. Vielleicht nicht der Haupttäter, aber ganz sicher der Zuhälter.«
    »Wenn wir das damals gewusst hätten … Es war ein großes Mietshaus, viele Parteien …«
    »Meret hat mir gesagt, das Haus war damals schon baufällig und viele Wohnungen standen leer.«
    »Das stimmt, aber da waren immer noch an die fünfzig Einheiten belegt. Du musst das doch wissen.«
    »Du glaubst doch nicht, dass ich meinen Onkel noch einmal freiwillig besucht hätte.«
    »Wann warst du zum letzten Mal bei ihm?«
    »Mit zehn«, sagt Sina. »Ungefähr«, fügt sie hinzu.
    Sie holt tief Luft, fixiert die Hängelampe über dem Tisch, eine gelbliche

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