Das Falsche in mir
»Er hätte uns sonst nicht gesagt, dass Carl Mulisch Salfeld ist.«
»Vielleicht wollte er seine Haut retten.«
»Das wissen wir erst, wenn wir Salfeld haben.«
Sie sitzen da und starren sich an, todmüde.
Wenn Carl Mulisch Lukas Salfeld ist – das zumindest steht nach der Vernehmung zweifelsfrei fest –, wer ist dann Leander Kern?
Sinas Telefon klingelt in die Stille hinein. Sie hebt ab, die Zentrale ist dran. »Jemand will Sie sprechen. Sind Sie da?«
»Wer ist es?«
»Er will seinen Namen nicht sagen. Ein komischer Typ. Er flüstert.«
Ein weiterer Verrückter. »Geben Sie ihn mir.« Eine Mobilfunknummer erscheint auf ihrem Display und sie wappnet sich gegen die üblichen Verschwörungstheorien. Verrückte rufen immer wieder an, wenn man sich verleugnen lässt, es ist besser, sie sofort abzuwimmeln.
»Wer ist da?«
»Lukas Salfeld.« Tatsächlich flüstert der Mann, raunt den Namen ins Telefon wie ein Geheimnis. Es ist unmöglich, seine Stimme zu erkennen. Vielleicht ist es Salfeld, vielleicht ein Verrückter.
»Wo sind Sie?«, fragt Sina so ruhig und normal wie möglich. Matthias und Gronberg treten neben sie, merken sofort, dass etwas los ist, aber sie schaltet nicht auf laut, Salfeld würde den Hall hören und dann vielleicht wieder auflegen.
»Versuchen Sie, mich zu orten und machen Sie keinen Lärm«, flüstert der Mann und dann hört sie nur noch Rauschen und Rascheln. Sie überlegt ein, zwei Sekunden lang – er hat das Telefon in die Tasche gesteckt, das heißt, er ist nicht allein –, dann deckt sie die Sprechmuschel mit der Hand ab und sagt: »Ich glaube, das ist Salfeld. Er will, dass wir ihn orten. Seid leise.«
»Hast du die Nummer?«
»Auf dem Display.«
Gronberg beugt sich über sie, schreibt die Nummer auf dem Display auf einen Zettel.
In diesem Moment bricht die Verbindung ab.
»Ein Prepaid-Handy«, murmelt er.
»Wir brauchen einen richterlichen Beschluss«, sagt Sina. »Schnell.«
»Ich weiß nicht, wie wir den jetzt herkriegen sollen«, sagt Matthias. Und nicht zum ersten Mal fällt Sina auf, was für ein Loser er ist, und sie fragt sich, ebenfalls nicht zum ersten Mal, wie er je auf diesen Posten kommen konnte.
Ich laufe, Sina Rastegars Stimme im Ohr, hinter Leander Kern und seinem Opfer her. Meinem Opfer, um genau zu sein, das ich töten werde, um meine Tochter zu retten.
Ich flüstere: »Orten Sie mich, schnell!«, bevor ich merke, dass die Verbindung bereits wieder abgerissen ist, denn wir befinden uns in einem Tunnel. Ich falle etwas zurück, denn die beiden gehen langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt. Nach dem Tunnel halten sie an einem weihnachtlich beleuchteten Kiosk, trinken Glühwein aus dampfenden Bechern. Ich verstecke mich in der Dunkelheit des Tunnels und sehe, ohne Silvia warnen zu können, wie Leander etwas in ihr Glas fallen lässt, als sie kurz den Kopf abwendet. Leander bezahlt, sie gehen weiter, redend, lachend. Von Zeit zu Zeit hebt Silvia Johansson den Kopf, ich sehe dann in der spärlichen Deckenbeleuchtung ihr lächelndes, Leander Kern zugewandtes Profil: Er gefällt ihr, das ist deutlich zu erkennen.
Leander Kern führt Silvia Johansson und mich, ihren unsichtbaren Schatten, in das Hafengebiet. Er vermeidet geschickt die belebte Innenstadt, wir bewegen uns hauptsächlich durch stille Wohnstraßen. Deswegen dauert es auch eine ganze Weile, bis wir angekommen sind.
Ich weiß nicht, was er Silvia erzählt, sie unterhalten sich in gedämpftem Ton miteinander, aber ich habe zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass Silvia misstrauisch wird. Im Gegenteil, ihre Gesten wirken angeregt; wahrscheinlich fragt Leander sie über ihren Alltag, ihre Träume, ihre Wünsche, ihre Ängste aus, so, wie ich es damals auch mit Marion getan habe. Frauen lieben es, gefragt zu werden, besonders wenn sie schüchtern sind, brauchen sie diese Form der Ermutigung. Besondersüber ihre Gefühle sprechen sie gern und ausführlich; es reicht dann fast, bestätigend zu murmeln und ab und zu eine Frage zu stellen, die sie behutsam in der Spur hält.
Schließlich rieche ich das Wasser der Ley, ein kalter, muffig-metallischer Geruch, und wir biegen in die Manonstraße ein, die parallel zum Containerhafen verläuft. Eine Reihe heruntergekommener Altbauten taucht vor uns auf, mit grauen, teilweise graffitibesprühten Fassaden. Hier wohnen vor allem Türken und Libanesen, aber auch viele Studenten in Wohngemeinschaften, weil hier die Miete noch bezahlbar ist; jeden Samstag
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