Das Falsche in mir
das Geringste mit. Es läuft so: Ich überlasse dir jetzt Silvia zur gefälligen Verfügung. Sobald Silvia tot ist, lasse ich euch Turteltäubchen allein. Dann kannst du die Polizei rufen oder einen Arzt oder deine Frau oder wen auch immer. Die Polizei wird hier deine DNA finden und die von Anne Martenstein und die von ein paar anderen Mädchen, die in den letzten Jahren verschwunden sind.«
Ich sage nichts, spüre das Metall an meinem Kopf, überlege, was wäre, wenn ich mich von ihm erschießen lassen würde. Ich weiß es natürlich. Dann würde Silvia trotzdem sterben. Und Teresa, meine Tochter, ebenso.
»Wenn ich dir einen Tipp geben darf«, sagt Leander Kern, ich sehe, wie sich sein Mundschutz bewegt, den er sich über Nase und Kinn gezogen hat. »Danach verziehst du dich. Verlässt die Stadt und das Land. Fängst ein neues Leben an. Oh, warte. Keine gute Idee. Teresa wird aufwachen und das alles hier sehen. Sie wird einen furchtbaren Schock erleiden. Posttraumatisches Syndrom. Das arme Kind wird nie mehr einen Mann an sich heranlassen. Drogensüchtig oder alkoholabhängig werden. Einsam sterben.«
»Du bist …«
»Widerlich? Im Gegenteil, ich appelliere an deine Verantwortung als Vater. Nein wirklich, vielleicht bringst du sie besser zuerst nach Hause und verschwindest anschließend. Oder auch nicht. Ganz, wie du willst.«
»Ja«, sage ich. Ich vergesse Teresa, denke an Silvia, die nebenan auf mich wartet.
»Du lieferst sie dort ab und stellst dich dann. Oder tauchst ab. Aber was auch immer du tust, es ist deine Entscheidung. Teresa wird sich nicht erklären können, wo ich geblieben bin – sie ist eingeschlafen, die Gute, aber nicht in dieser Wohnung, keine Sorge. Was sie betrifft – sie war nie hier. Für so ein junges Ding ist sie übrigens nicht schlecht im Bett.«
Ich atme tief ein, Wut erfüllt mich wie ein längst vergessenes Gefühl.
Ich höre, wie Leander den Hahn spannt, oder vermute, dass er das tut, weil neben meinem Ohr etwas klickt. »Denk nicht einmal dran.« Seine Stimme ist rau, ich höre etwas heraus – Zorn, Triumph oder beides.
Mein Körper entspannt sich folgsam: Ich habe keine Chance. Und es ist mir ganz recht so. Es ist, als ob Leander die Verantwortung für alles Kommende übernommen hätte.
Wir gehen zurück. Leander setzt sich wieder in den Sessel, lässt die Waffe auf mich gerichtet. Ich nehme das Messer in die Hand, registriere, dass das Blut bereits leicht angetrocknet ist. Eine Welle schlägt über mir zusammen, mein Verstand setzt aus, meine Instinkte übernehmen das Ruder.
Und dann, ich weiß nicht, wann, bin ich im glutroten Rausch, das Messer auf ihrer Haut, die klaffenden Wunden, erst kleiner, dann tiefer, dann …
… gibt es ein Geräusch, das ich nicht einordnen kann, jedenfalls ist es unfassbar laut wie eine Explosion, aber es ist keine Explosion, denn nichts fliegt mir um die Ohren, es ist eher wie ein Splittern.
Ich höre auf, ratlos.
Ein Splittern von Holz, fast ein Stöhnen. Wie ein Baum, der fällt, ganz langsam, qualvoll trennen sich die Fasern voneinander. Der Boden schwankt wie bei einem Erdbeben, die Wändezittern, und dann der zweite Stoß. Es ist die Wohnungstür, sie springt auf, vielleicht haben sie einen Rammbock benutzt, ich spüre die Welle bis hierher und höre schließlich Männerstimmen, Fußgetrappel, einen Ruf: »Sauber!«, einen zweiten Ruf: »Hier liegt jemand.«
Und dann sind sie in meinem Raum, in meinem höllischen Paradies.
Weißes Licht blendet mich, ich lasse das Messer fallen, mir ist plötzlich kalt, ich drehe mich nach Leander um, aber der Sessel ist leer. Ich sehe nach vorn, auf Silvia Johansson, blutüberströmt.
Sina Rastegar steht vor mir, ich sehe sie nur an, ihre Augen, ihre zusammengepressten Lippen, ihr dickes schwarzes Haar, das ihr jetzt offen auf die Schultern fällt, sie wirkt so stark, so sicher, ich möchte mich ausruhen in ihrem Blick.
»Sie sind verhaftet«, sagt sie ruhig, in ihrem Blick ist Abscheu und noch etwas anderes, eine Ratlosigkeit …
Ich weiß nicht, was, es ist auch egal.
»Warten Sie«, sage ich, während mir einer der Schwarzbehelmten grob die Hände auf den Rücken dreht, um die Handschellen anzulegen. Wie damals, ja, ganz genau wie damals.
»Warten Sie«, wiederhole ich, bevor sie mich abführen können.
Sina Rastegar gibt dem Schwarzbehelmten einen Wink, dann sagt sie: »Wollen Sie ein Geständnis ablegen?«
»Ich will wissen, ob sie noch lebt.«
Sie sieht mich fassungslos
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