Das Falsche in mir
findet am Ende der Straße ein Markt statt, den die Leydener gern besuchen, weil es hier neben Obst, Gemüse und Fisch auch preiswerte exotische Lebensmittel gibt.
Ich erinnere mich an einen sonnigen Nachmittag mit Birgit, Teresa und Kira, diesen oder letzten Sommer, ich bin mir nicht sicher. Es war heiß und voll, Kira war schlecht, und Teresa hatte keine Lust, mit ihren Eltern unterwegs zu sein. Trotzdem kommt mir dieser Ausflug in der Rückschau wunderschön vor.
Jetzt ist niemand auf der Straße unterwegs, außer Leander, Silvia und ich. Der Schnee leuchtet sehr hell, deshalb lasse ich mich etwas zurückfallen. Die Straße ist so gerade und übersichtlich, dass ich das Paar problemlos verfolgen kann, ohne aufzufallen.
Mein besserer Teil möchte dieses fatale Gespann auseinanderreißen. Ich tue es nicht, weil Silvia dann vermutlich trotzdem sterben würde und meine Tochter ebenfalls. Leander Kern ist skrupellos und brutal genug, um seine Drohung wahr zu machen.
Wäre das doch der Grund.
Aber natürlich lüge ich mir etwas vor.
Ich spüre vielmehr, wie sich etwas in mir hebt, ausbreitet, mich ganz erfüllt, ein fremdes, schönes und schreckliches Wesen, eine himmlische, höllische Euphorie, ein blendend helles Licht. Eine Explosion, die meine nüchterne Fassade hinwegfegtund mich in einen Gott verwandelt, allmächtig und abgrundtief verdorben. Mir wird so warm, dass ich im Gehen meine Jacke öffne. Das ständige Frieren, der Husten, die Schwächezustände nach meiner Grippe – das alles ist vergessen. Mein Körper scheint zu wachsen, er wird geschmeidig wie der eines Panthers, scheint mit jedem mühelosen Schritt an Kraft zuzunehmen, gleichzeitig wird die Brandmauer meines Verstandes, die mich die ganzen letzten Jahrzehnte vor Anfechtungen geschützt hat, immer durchlässiger.
Die Flut dringt ein wie durch poröse Wände. Steigt höher und höher.
Und ich fühle, dass das, was ich tue, jenseits aller moralischen Maßstäbe richtig ist, weil es für mich richtig ist; ich bin mein eigenes Universum, in dem nichts anderes zählt außer meinen Wünschen und Befehlen.
Wir passieren ein indisches Lokal, dann ein libanesisches. Beide sind erleuchtet, aber spärlich besucht. Schließlich verlangsamen sich die Schritte der beiden, und Leander macht die charakteristische Bewegung eines Mannes, der seinen Schlüssel in der Manteltasche sucht.
Also nicht der Containerhafen. Eine ganz normale Wohnung mit Nachbarn. Wie kann er das wagen?
Ich bleibe stehen und warte, bis sie im Eingang verschwunden sind, dann gehe ich schneller, damit mir die Haustür nicht vor der Nase zufällt. Als ich angekommen bin, sehe ich, dass Leander sie arretiert hat. Sie steht weit offen, Wind und Schnee wehen herein. Ich überlege, in welchem Stock sie sein werden, aber Leander wird schon dafür gesorgt haben, dass ich sie finde.
Langsam steige ich die Treppe hoch bis zum dritten Stock, lausche an der Tür jeder Wohnung, stelle dabei fest, dass einige, nein sogar die Mehrzahl leer stehen müssen, denn ich kann nur wenige Namensschilder entdecken, und die sind uralt; teilweise sind die Messingplaketten dunkel angelaufen und verkratzt,teilweise wurden sie ersetzt durch vergilbte, unleserliche Klebezettel. Es riecht nach feuchtem Holz, Müll und Verfall.
Ein Abrisshaus.
Schließlich bin ich im fünften Stock angekommen. In der trüben Beleuchtung entdecke ich ein zusammengeknülltes Blatt Papier vor der rechten Tür neben der Treppe. Ich falte es auseinander.
Ein Schlüssel befindet sich darin. Ich schiebe ihn vorsichtig ins Schloss; er scheint zu passen. Ich hole tief Luft, es ist, als würde ein herrlicher Traum wahr werden, ich drehe den Schlüssel – mein besseres Ich verabschiedet sich –, und mühelos öffnet sich die Tür zu meinem Paradies.
Ich sehe als Erstes einen Gang. Er ist dunkel, aber es fällt flackerndes Licht aus einer halb offen stehenden Tür am anderen Ende, sodass ich sehen kann, dass der Parkettboden schmutzig und abgetreten ist. Ich stehe im Türrahmen, hinter mir gibt es ein Knacken – die Treppenbeleuchtung schaltet sich ab, ein Wunder übrigens, dass sie noch funktioniert –, und ich warte, ohne zu wissen, worauf.
Ich schließe die Tür. Ich höre leise Musik, eine getragene Rockballade, ich kann die Worte »on his crash course with the big time« verstehen, der Rest geht unter in wuchtig-orchestralem Sound. Schließlich setze ich einen Schritt vor den anderen, angstvoll, lustvoll. Links neben mir ist ein
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