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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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Lampenfieber hatte.
    Meine Hand war warm.
    Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet an diese Szene denken muss, während ich neben Leander Kern sitze, einem jungen Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mich zu vernichten. Vielleicht ist es das Wissen, dass ich bald sterben werde. Heißt es nicht, dass man im Moment seines Todes sein ganzes Leben vorbeiziehen sieht? Mein Leben war ein Kampf, und mein schlimmster Gegner war ich selbst. Ich frage mich plötzlich, ob ich vielleicht doch eine Chance gehabt hätte – mitweniger kalten Eltern und etwas mehr Freude und Wärme in meiner Kindheit.
    »Warum gerade ich?«, frage ich, während der Schneesturm um uns tobt. Er nimmt seine Kapuze ab und sieht mich an – dunkle Augen, dunkle lockige Haare, ein bisschen wild, durchaus attraktiv, vielleicht Mitte zwanzig.
    »Ich bin dein Sohn«, sagt er.
    »Blödsinn«, sage ich, nach dem ersten Schock verärgert. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren nur mit Birgit geschlafen. Und vorher habe ich Frauen aus gutem Grund gemieden, ohne Ausnahme. Ich habe gelebt wie ein Mönch, weil ich gefährlich war und außerdem davon überzeugt, Sex nicht auf normale Weise haben zu können. Ich bin sicher: Ich habe definitiv keinen Sohn.
    »Ich bin dein Sohn«, wiederholt er.
    Also ein Verrückter. Ich muss mich auf einen Verrückten einstellen, und das macht die Sache noch gefährlicher, weil Verrückte unberechenbar sind. Sie tun Dinge, die sie aus einer inneren Notwendigkeit heraus tun müssen, selbst wenn sie ihnen schaden. Sie sind die wahren Anarchisten.
    »Ich habe keinen Sohn«, sage ich. »Also hören Sie auf damit.«
    Er lächelt spöttisch, und mir wird klar, dass er seine Behauptung metaphorisch gemeint hat: Er betrachtet mich als eine Art Vorbild, einen Vater im Geiste. Diese Idee ist noch schlimmer.
    »Sieh mich an«, fordert er, und ich sehe ihn an, tauche meinen Blick in seine dunklen Augen, und er macht eine Handbewegung – schnipst mit den Fingern in mein Gesicht –, und es passiert etwas mit mir.
    Ich erinnere mich.
    »Du hast mich hypnotisiert«, sage ich erstaunt.
    Er lächelt schief. »Das war nicht schwer. Du bist sehr empfänglich.«
    »Du …«
    »Was siehst du?«, unterbricht er mich.
    Ich sehe junge Leute. Ich bin im »Jensen«. Es ist heiß und voll. Ich schiebe mich durch die Menschenmassen zur Bar. Ich trinke, erst Bier, dann Wodka. Mädchen und Jungs sind um mich herum, ich sehe sie mit betrunkener Klarheit, erkenne, wie sie sich bemühen, wahrgenommen zu werden, nicht abgedrängt zu werden von ihren hübscheren, clevereren, schlagfertigeren Konkurrenten – und es gibt ja immer jemanden, der hübscher, cleverer oder schlagfertiger ist als man selbst, dieser Kampf endet nie, und in der Jugend ist er besonders brutal, weil junge Menschen zu ehrlich sind, um rücksichtsvoll zu sein.
    Dann steht Leander Kern plötzlich neben mir. Spendiert mir einen Drink, was ich erstaunt annehme – ich bin nicht unbedingt der Typ, für den sich junge Männer interessieren. Das Licht wird jetzt weiter gedimmt, wie immer zu vorgerückter Stunde. Seine Augen lassen mich nicht los, und ich überlege, ob er schwul ist. Das würde mich wundern, denn normalerweise übe ich auf schwule Männer keine besondere Anziehungskraft aus. Das ist mir aber in diesem Moment egal, ich habe Lust, mich zu unterhalten, und er wirkt sympathisch und interessiert.
    Jedenfalls fragt er mich aus. Über meinen Beruf, meine Familie, meine Frau, die Journalistin, meine Töchter, die Schülerinnen … Ich gebe vielleicht allzu bereitwillig und ausführlich Auskunft, der Alkohol löst mir die Zunge, aber es gibt auch keinen für mich ersichtlichen Grund, nicht darüber zu reden.
    »Was machst du hier, Lukas?«, fragt er schließlich, und ich bin überrascht, weil ich mich nicht daran erinnere, ihm meinen Namen genannt zu haben.
    Andererseits bin ich bereits ziemlich betrunken, bestimmt habe ich es vergessen.
    »Trinken«, sage ich und lache wie ein Idiot. Er lächelt und schiebt seine Faust fast zärtlich in meine Schulter.
    »Trinken könntest du auch woanders«, sagt er in leichtem Tonfall.
    »Du meinst, ich hebe hier auf unpassende Weise den Altersdurchschnitt?«, grinse ich.
    Er lacht, antwortet nicht. Stattdessen bestellt er Wodka für mich und ihn, stößt mit mir an, kippt sein Glas. Ich weiß, dass ich aufhören sollte. Aber mein Konsum hat die kritische Grenze überschritten, ich bin nicht mehr Herr meiner Entscheidungen. Ich trinke die klare, kalte,

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