Das Falsche in mir
zweites Zimmer mit geschlossener Tür. Ich versuche sie zu öffnen, sie ist abgesperrt, die Klinke ist kalt, obwohl der Rest der Wohnung geheizt ist. Das bedeutet, dieses Zimmer war schon länger nicht mehr in Benutzung; es ist also unwahrscheinlich, dass Teresa dort gefangen gehalten wird.
Wenn sie noch lebt.
Sie kann nicht mehr leben. Das ist unmöglich, wenn Leanders Plan aufgehen soll – sie wüsste ja dann die Wahrheit.
Ich stocke, diese Erkenntnis ernüchtert mich auf einen Schlag.
Dann dringt wieder die sentimental-brutale Musik an mein Ohr, scheint diesmal direkt in meine Lenden zu fließen, und ich vergesse alles, meine Tochter, meine Familie, meine Verantwortung, meine Tragödie, alles außer Silvia. Ich gehe weiter, die Musik wird lauter, leidenschaftlicher, die starken, sanften Rhythmen hüllen mich ein, die tiefe, raue Stimme des Sängers scheint plötzlich aus mir selbst zu kommen.
»Komm doch rein.«
Leander Kern. So entspannt, als wäre ich ein Freund, als würde ich ihm einen ganz normalen Besuch abstatten.
Ich stoße die Tür auf und sehe als Erstes ihn. Er trägt einen dünnen weißen Schutzoverall, der auch seine Haare verbirgt, transparente Fingerhandschuhe und einen Mundschutz, den er jetzt um den Hals baumeln hat. Er sitzt auf einem abgeschabten Cordsessel, die Beine von sich gestreckt, und raucht einen Joint. Mindestens dreißig, vierzig Kerzen brennen, die er überall im Raum aufgestellt hat. Weihnachten steht vor der Tür, dieser Gedanke fliegt mich an, und ich muss beinahe lachen, aus Lust und Verzweiflung. Der Geruch nach Haschisch erfüllt den Raum, erdig, süßlich und so intensiv wie Weihrauch.
Links neben Leander ist Silvia Johansson nackt an einen Stuhl mit abnorm hoher Lehne gefesselt. Weiße Plastikseile schnüren ihre gespreizten Oberschenkel, ihre Hüften, ihre Schienbeine ein. Ein weiteres Seil ist um ihren flachen Bauch geschlungen, ich kann ihre zarten Muskeln sehen, den Rhythmus ihres flachen Atems. Und den kleinen, festen Busen. Silvias Arme sind nach oben gestreckt und an den Streben der Lehne fixiert. Ihre Fingerkuppen sind bereits weiß und wahrscheinlich fast taub. Ihre Lippen sind mit einem silbernen Klebeband verschlossen. Offenbar ist sie sediert; ihre Augen sind halb geschlossen.
Ich bewundere seine ausgefeilte Technik. Selbst Silvias Stirn ist fixiert; sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Sie wirdmir präsentiert wie ein Geschenk. Ich muss mich nur bedienen. Ich sehe mich nach einem Messer um, die Sehnsucht schnürt mir fast die Kehle ab, ich höre die Musik und spüre das Blut – mein Blut – in den Ohren rauschen, so laut, dass ich Leanders Stimme fast nicht hören kann.
Die Musik hört auf, abrupt.
»Vielleicht möchtest du zuerst einen Blick in das andere Zimmer werfen?«
»Was?«
Widerwillig wende ich den Blick von Silvias weißem Körper ab, ihrem leuchtend blonden Pagenkopf, der perfekten Kinnlinie, den bläulichen Schatten unter den Augen: Sie ist so schön wie Marion, vielleicht noch schöner, nein, viel, viel viel schöner. Das Blut auf ihrem Körper wird sie zur Göttin machen.
Ich sehe das Messer. Leander hat es auf einen Tisch neben der Tür gelegt. Ich nehme das Messer, wiege es in der Hand. Ich werfe einen Blick auf Leander, der nun eine Pistole in der Hand hält. Ich gehe zu Silvia, überlege, wo ich beginnen soll. Ich liebe sie, ich liebe ihren Körper, ich ritze mit dem Messer ihren Bauch, eine weiche Stelle direkt über ihrem Nabel, ganz leicht, aber das Messer ist scharf, es braucht wenig Druck, das Blut fließt.
Silvia stöhnt, aber das höre ich kaum.
»Warte!«
Ich warte, mit dem blutigen Messer in der Hand.
Währenddessen drückt sich Leander aus dem Sessel, mit langsamen, lässigen Bewegungen. Ich sehe, dass er weiße Überzieher über seine Schuhe gezogen hat. Er hat wirklich an alles gedacht. Er steht jetzt vor mir, sicher zehn Zentimeter größer als ich, schaut auf mich herunter, regungslos, seine dunklen Augen bohren sich in meine.
Dann legt er eine behandschuhte Hand auf meine Schulter.
»Komm mit«, sagt er. Er nimmt die Hand von der Schulterund verlässt das erleuchtete Zimmer, und ich folge ihm auf den Gang. Er öffnet eine Tür und dort steht eine breite Ledercouch und jemand liegt darauf, in eine Decke eingewickelt, ruhig atmend.
Ich spüre etwas Hartes an meiner Schläfe.
»Beweg dich nicht.«
Ich bewege mich nicht.
»Ist das Teresa?«, frage ich.
»Sie schläft«, sagt Leander. »Sie bekommt nicht
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