Das falsche Opfer
blickte von ihrer Höhe aus auf mich
herab. Ein boshafter, triumphierender Schimmer tauchte in ihren Augen auf,
während sie ihren völligen Sieg auskostete.
»Was ist los?« gurrte sie mit kehliger Stimme. »Hat es Ihnen die Rede verschlagen?«
Ich erinnerte mich plötzlich
mit Gewissensbissen, daß ich meinem Lehrer in der sechsten Klasse nie wirklich
geglaubt hatte, wenn er behauptete, Geographie könnte Spaß machen. Von Johnnys
verrücktem Haarschnitt an bis zu den rosigen Sohlen ihrer elegant geformten
Beine machte alles Spaß, nichts als Spaß. Ihr Büstenhalter und das Höschen bildeten
mit dem abgelegten Unterrock eine Kombination, und beide wirkten auf grandiose
Weise, als wären sie den herkulischen Anforderungen, die an sie gestellt
wurden, nicht gewachsen. Ihre mit Grübchen versehenen Knie schienen mir
ermutigend zuzublinzeln, während mir das Blut in den Adern zu pochen begann und
die Lähmung binnen einer Sekunde beseitigte.
Johnny beugte sich, die Arme
einladend ausgestreckt, noch weiter zu mir herab, und dann gab es einen leise
knackenden Laut und die Balkoneinfassung, den Anstrengungen nicht mehr
gewachsen, segelte vor meine Füße.
»Hallo, Al«, sagte Johnny mit
heiserer Stimme. »Willkommen an Bord.«
Der dringliche schnarrende Ton
der Telefonklingel ließ mich zitternd mitten im Schritt innehalten, wie einen
Bergsteiger, der auf halbem Weg auf den Mount Everest aufgeben muß. Johnny
seufzte leise und richtete sich auf.
»Ich glaube, Sie gehen besser
an den Apparat, Al«, sagte sie bedauernd.
»Sind Sie übergeschnappt?«
fragte ich mit krächzender Stimme.
»Sie sind Polizeilieutenant — Polizeibeamter«, sagte sie unlustig. »Wenn es sich bei dem Anruf um eine
Polizeisache dreht, ruft der Kerl am anderen Ende der Leitung alle fünf Minuten
an, so lange, bis jemand antwortet.«
»Dann lassen wir’s eben
klingeln«, knurrte ich.
»Wenn Sie glauben, daß ich
selig in dem glücklichen Gedanken, zumindest alle fünf Minuten das Telefon
klingeln hören zu dürfen, auf Ihre Monstercouch sinke, dann sind Sie viel
einfältiger, als ich gedacht habe.«
»Hm«, sagte ich matt, denn ihre
Logik war unwiderlegbar. »Wissen Sie was?« fuhr ich mit gebrochener Stimme
fort. »Wenn wir doch bloß statt dessen in Ihre Wohnung gegangen wären!«
Vor mir lag die trockene Wüste,
die die Couch von dem kleinen Tisch neben dem Fenster trennte. Ich stapfte
mürrisch hindurch und hob schließlich den Hörer ab.
»Warum ziehen Sie nicht mit der
nächsten Kamelkarawane wieder zurück in die Äußere Mongolei?« knurrte ich in
die Sprechmuschel.
»Wheeler?« Meine letzten
schwachen Hoffnungen erloschen schlagartig, als ich Sheriff Lavers ’
bullenähnliches Organ hörte.
»Sheriff!« stöhnte ich.
»Sie fahren am besten gleich
hinaus zu Kramers Haus«, sagte er gepreßt. »Dort ist der Teufel los.«
»Inwiefern?«
» Polnik hat nicht viel Sinnvolles von sich gegeben, als er vor fünf Minuten anrief«,
sagte er steif. »Aber eines ist sicher — Mrs. Kramer
ist tot, mit einer Kugel vom Kaliber fünfundvierzig umgebracht worden.«
»Wer hat es getan? Haben Sie
irgendeine Ahnung?«
»Klar, wir wissen, wer sie
umgebracht hat.« Seine Stimme klang plötzlich müde. »Ihr Mann!«
Neuntes Kapitel
E s kostete noch ungefähr fünf
Minuten extra, Johnny auf dem Weg zum Kramerschen Haus vor ihrer Wohnung abzusetzen. Irgendwie hatte die empfindsame Unterlippe
ihre ganze Arroganz verloren, als mir Johnny einen Abschiedskuß gab, bevor sie aus dem Wagen stieg.
»Wie Romeo und Julia«, sagte
sie mit düsterem Lächeln. »Der Unstern, der über den Liebenden waltet.«
»Ich bin jedenfalls froh, daß
Sie nicht dreizehn sind«, sagte ich. »Das wäre ein Problem für einen
Polizeibeamten. Ich rufe Sie an, Süße, sobald ich kann.«
»Tun Sie das, Al«, sagte sie
betrübt. »Machen Sie diesem ekligen alten Sheriff klar, daß Sie ein Recht auf
etwas Privatleben haben und daß ihn alles übrige nichts anginge.«
Ich sah zu, wie sie, sich sanft
in den Hüften wiegend, in dem schwarzen Seidenkleid über den Bürgersteig ging.
Dann fuhr ich mit dem Healey auf die Straße hinaus.
Die Fahrt zum Kramerschen Haus, die ich mutterseelenallein mit meinen
ungestillten Wünschen nach Gesellschaft zurücklegte, war wie eine Fahrt über
den Styx unter Charons Hinweisen darauf, was zu gewärtigen war. Als ich draußen
ankam, sah ich den Wagen des Sheriffs ungefähr hundert Meter vor mir über die
unebene Zufahrt
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