Das falsche Urteil - Roman
irgendeinen Zusammenhang mit den Fällen Beatrice und Marlene geben muss.«
»Inwiefern?«, fragte Heidelbluum mit plötzlich scharfer Stimme.
»Das wissen wir nicht«, sagte Münster.
Eine Pause folgte. Heidelbluum zog an seinem Zigarillo
und legte es beiseite. Münster trank einen Schluck Mineralwasser aus dem Glas, das ihm hingestellt worden war. Der Kommissar hatte ihm geraten, dem alten Richter viel Zeit zu lassen, ihn nicht anzutreiben, sondern ihn in Ruhe seine Gedanken und Überlegungen vorbringen zu lassen. Es hat doch keinen Zweck, einen Mann von 82 ins Kreuzverhör zu nehmen, hatte er erklärt.
»Es war mein letzter Prozess«, erklärte Heidelbluum und räusperte sich. »Der Marlenemord, meine ich. Hrrm. Mein allerletzter...«
Sprach ein leises Bedauern aus seiner Stimme oder bildete Münster sich das nur ein?
»Das ist mir bewusst.«
»Hrrm«, sagte Heidelbluum noch einmal.
»Es wäre interessant, Ihre Meinung über ihn zu hören.«
Heidelbluum schob sich Zeige- und Mittelfinger unter den Hemdkragen, um sein dunkelblaues Halstuch ein wenig zu lockern.
»Ich bin alt«, erklärte er. »Lebe vielleicht noch einen Sommer. Oder bestenfalls zwei.«
Er verstummte für einen Moment und schien den Faden zu suchen. Münster schaute auf und betrachtete die Reihen aus dunklen, eingebundenen Büchern hinter dem Rücken des anderen. Wie viele davon er wohl wirklich gelesen hat, fragte er sich. Und an wie viele er sich erinnert ...
»Und mir ist das jetzt egal.«
»Was ist Ihnen egal?«
»Leopold Verhaven. Sie sind zu jung, um das zu verstehen. Er hat mir ziemlich zugesetzt... diese beiden verdammten Geschichten. Ich wäre froh, wenn mir wenigstens der zweite Prozess erspart geblieben wäre, aber es wäre ja auch nicht richtig gewesen, den irgendeinem anderen Pechvogel zu überlassen...«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich dachte, ich könnte mir endlich wirklich sicher werden.
Und auch einen Strich unter alle Zweifel beim ersten Tribunal ziehen.«
»Tribunal?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Es war auf jeden Fall eine verdammte Geschichte... aber zitieren Sie mich nicht.«
»Ich bin kein Journalist«, sagte Münster.
»Nein, stimmt.« Heidelbluum griff zu seinem Zigarillo.
»Kann ich Sie so verstehen, dass Sie Verhaven für unschuldig halten?«
Heidelbluum schüttelte den Kopf.
»Nicht doch, zum Kuckuck. Ich habe niemals jemanden verurteilt, den ich nicht für schuldig gehalten hätte. Nie im Leben. Aber er war... ein Rätsel. Ja, ein Rätsel. Sie können das einfach nicht verstehen, man muss ihn selber erlebt haben. Der ganze Mann war ein Rätsel, ich habe dieses Amt über dreißig Jahre lang ausgeübt, ich habe viel gesehen, aber niemanden wie Leopold Verhaven. Niemanden.«
Er gab sich Feuer und zog am Zigarillo.
»Können Sie das ein wenig ausführlicher erzählen?«
»Hmm ... na ja, nein, Sie verstehen das nicht. Das Seltsamste ist vielleicht, dass die psychologischen Gutachten auch nicht weiterhalfen. Es hätte doch einiges erklärt, wenn dabei Störungen oder mentale Schäden entdeckt worden wären, aber davon war nie die Rede.«
»Aber was war dann so seltsam an ihm?«, fragte Münster.
Heidelbluum dachte eine Weile nach.
»Ziemlich viel. Dass ihm das Urteil egal zu sein schien, zum Beispiel. Darüber habe ich sehr viel nachgedacht, und ich neige weiterhin zu der Ansicht, dass es Leopold Verhaven vollständig gleichgültig war, ob er verurteilt würde oder nicht. Vollständig gleichgültig.«
»Klingt seltsam«, sagte Münster.
»Sicher ist das seltsam. Das sage ich doch die ganze Zeit.«
»Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er sich in der Rolle des Angeklagten wohl fühlte«, sagte Münster.
»Zweifellos«, erwiderte Heidelbluum. »Er fand es ganz wunderbar, wie die Spinne mitten im juristischen Netz zu sitzen... und die unbestreitbare Hauptrolle zu spielen. Das hat er natürlich nicht so deutlich zum Ausdruck gebracht, aber ich habe es ihm angesehen. Er wollte im Mittelpunkt stehen und hatte nun die Möglichkeit...«
»Und das gefiel ihm so gut, dass er dafür bereit war, zwölf Jahre ins Gefängnis zu gehen... und das gleich zweimal?«, fragte Münster.
Heidelbluum seufzte.
»Hrrm«, sagte er. »Das ist ja gerade die Frage.«
Münster schwieg eine Weile und hörte dem Rasensprenger zu, der offenbar draußen im Garten am Werk war.
»Als er sein Urteil hörte, hat er sogar kurz gelächelt. Beide Male. Was sagen Sie dazu?«
»Wie sah die Sache mit Beweisführung und
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