Das falsche Urteil - Roman
lassen musste.
Als die Kinder endlich im Bett lagen und sie in der Küche beim Abendtee saßen, zog er zwei Fotos von Verhaven hervor – eins stammte von einer Sportveranstaltung vor dem Dopingskandal, das andere war zwei Jahre später aufgenommen worden, an jenem Nachmittag im April 1962, als er von zwei Polizisten in Zivil festgenommen worden war.
Auf beiden Bildern fiel die Sonne schräg in Verhavens Gesicht, und auf beiden schaute er freimütig in die Kamera. Und um seinen Mund schien ein leises Lächeln zu spielen. Eine Art scherzhafter Ernst.
»Was hast du für einen Eindruck von diesem Mann?«, fragte Münster seine Frau. »Du liest doch sonst in allen Gesichtern.«
Synn legte die Bilder nebeneinander auf den Küchentisch und betrachtete sie eine Weile.
»Wer ist das?«, fragte sie. »Er kommt mir auf irgendeine Weise bekannt vor. Das ist ein Schauspieler, oder?«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Münster. »Doch, eigentlich hast du Recht. Vielleicht war er genau das – ein Schauspieler.«
V
24. August 1993
23
Es dauerte einige Zeit, im Kamin ein Feuer zu entfachen, aber nachdem er den Abzug gereinigt hatte, ging es dann doch. Qualmte zuerst noch ein wenig, aber dann war der Schornstein offen. Er drehte den Wasserhahn auf, aber nichts passierte; also musste er sich Wasser von der Quelle im Wald holen. Er setzte einen großen Kessel auf die Platte, daneben einen kleineren für Kaffee. Schaltete den Kühlschrank ein. Der Strom war wieder zugeschaltet, das hatte er vorher beantragt. Auch darum hatte sie sich gekümmert.
Als das Wasser heiß war, füllte er eine Wanne damit, trug sie zu dem wackeligen Tisch an der Giebelseite und wusch sich. Die Sonne war noch immer nicht hinter dem Wald versunken und wärmte ihn, als er in der Unterhose dastand; Spätsommerhummeln brummten im meterhohen Resedastrauch vor der Wand, es duftete nach reifen Äpfeln, die schon vom Baum fielen, und er spürte, dass es einen neuen Anfang gab.
Für das Leben. Für die Welt.
Wenn er alles tat, was getan werden musste, würde er wieder hier oben wohnen können. Er hatte seine Zweifel gehabt, aber dieser Nachmittag und Abend mit seinen ruhigen Bewegungen und dem stummen Willkommen hatten doch kaum ein Zufall sein können.
Es war ein Zeichen. Eins von diesen Zeichen.
Er goss sich den letzten Rest Wasser über den Kopf. Achtete
nicht darauf, dass seine Unterhose nass wurde, er streifte sie ab und ging nackt zurück ins Haus.
Zog sich um. Die Kleidungsstücke in Kommode und Garderobe waren ziemlich unversehrt; rochen vielleicht ein wenig seltsam, ein bisschen nach Jute oder Rosshaar, aber egal, sie hatten schließlich zwölf Jahre unbenutzt hier gelegen.
So lange wie er selber. Dasselbe Warten, dieselbe Eingeschlossenheit.
Gegen sieben aß er zu Abend. Wurst und Eier, Brot, Zwiebeln und Bier. Aß draußen auf der Treppe, mit dem Teller auf den Knien und der Flasche auf dem Geländer, so wie früher. Spülte danach, machte noch einmal Feuer und versuchte den Fernseher in Gang zu bringen. Der rauschte und zeigte stumme Bilder irgendeines ausländischen Senders. Er schaltete wieder aus und versuchte es mit dem Radio. Das ging besser. Er setzte sich in den Korbsessel vor dem Feuer und hörte sich die Acht-Uhr-Nachrichten an, trank dazu Bier und rauchte eine Zigarette. Es war nicht ganz leicht zu begreifen, dass er vor so vielen Jahren zuletzt hier gesessen hatte, ihm kam es eher vor wie Wochen oder höchstens wie Monate, aber er wusste ja, dass das Leben auf diese Weise verlief. Ohne regelmäßige Strömung, ohne Kontinuität. Sondern mit jähen Wendungen ... mit Neuanfängen und Störungen. Aber im Körper war die Zeit eben doch eingraviert; in der Müdigkeit und der wachsenden Trägheit der Bewegungen.
Und im Zorn der Seele. In dieser immer heißer brennenden Flamme. Er sah ein, dass er das Notwendige so rasch wie möglich hinter sich bringen musste. Am besten schon in den nächsten Tagen. Er wusste ja, was er wissen musste. Und hatte keinen Grund zum Warten.
Er blieb sitzen, bis vom Feuer nur noch ein dünnes Glutbett übrig war. Es war jetzt dunkel; es war Zeit zum Schlafengehen,
aber vorher musste er doch noch einen Blick in den Hühnerstall werfen ... wollte einfach wissen, wie es dort aussah. Er hatte nicht vor, wieder mit der Hühnerzucht anzufangen, durchaus nicht, aber er würde sicher nicht schlafen können, wenn er vorher nicht wenigstens kurz hineingeschaut hatte.
Er nahm die Gaslampe und ging
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