Das falsche Urteil - Roman
bedankt und ihn gebeten, Sie allein zu lassen.
V: Warum hätte ich mich bei ihm ausweinen sollen? Ich komme immer irgendwie zurecht.
H: Finden Sie nicht selber, dass Sie sich seit Beatrice Holdens Verschwinden ziemlich seltsam verhalten haben?
V: Nein, das finde ich nicht.
H: Verstehen Sie, dass andere das vielleicht finden?
V: Ich weiß nicht, was andere finden. Von mir aus sollen sie denken, was sie wollen.
H: Aha. Und Sie sind ganz sicher, dass Sie Ihre Lebensgefährtin nicht umgebracht haben?
V: Ich war das nicht.
H: Sind Sie oft in den Teil des Waldes gegangen, in dem sie gefunden worden ist?
V: Nein.
H: Waren Sie jemals dort?
V: Vielleicht.
H: Aber nicht an dem Wochenende, an dem sie verschwunden ist?
V: Nein.
H: Was glauben Sie, wie sie gestorben ist, Herr Verhaven?
V: Ich glaube gar nichts.
H: Etwas müssen Sie doch glauben.
V: Es war natürlich ein Kerl. Irgend so ein kranker Typ, der sonst kein Frauenzimmer abkriegt.
H: Halten Sie sich selber nicht für so einen Typen?
V: Ich kriege immer Frauenzimmer ab.
H: Danke. Herr Richter, für den Moment habe ich keine weiteren Fragen an den Angeklagten.
Van Veeteren schob den Papierstapel in den schmalen Zwischenraum unter der Nachttischplatte. Es war kurz vor eins.
Ich sollte besser schlafen, dachte er.
Verhaven, dachte er dann.
Wirklich ein Mist, dass er nicht dort gewesen war. Dass er nicht wenigstens im Zusammenhang mit der Marlenegeschichte, wo er bei den Ermittlungen eingesprungen war, zwei Stunden freigeschaufelt hatte... Vielleicht hätte es gereicht, ihn einfach eine Zeit lang zu beobachten.
Nur einige Minuten auf der Anklagebank, dann hätte er Bescheid gewusst.
Gewusst, ob sein bohrender Verdacht etwas wert sei. Ob der irgendeine Berechtigung habe, oder ob Verhaven im Grunde wirklich nur der primitive Gewalttäter und Mörder war, zu dem man ihn abgestempelt hatte.
Schuldig oder unschuldig, also?
Es war unmöglich, das zu entscheiden. Heute wie damals.
Aber diese eine Tatsache ließ sich ja nicht von der Hand weisen:
Jemand hatte nach der Entlassung aus dem Gefängnis auf ihn gewartet.
Jemand hatte ihn ermordet und seinen Leichnam verstümmelt. Jemand hatte verhindern wollen, dass er jemals identifiziert werden könnte.
Denn das musste doch das Ziel des Mörders gewesen sein.
Und schließlich: jemand musste einen Grund gehabt haben.
Aber welchen?
Auch diese Frage war noch offen und unbeantwortet.
Er knipste die Lampe aus. Schloss die Augen und ehe er sich’s versah, träumte er auch schon von Jess und den Zwillingen. Auf Französisch.
Seltsam, welche Sprünge sein Gehirn zu so später Stunde schaffte ...
Aber an und für sich – ihr nachmittäglicher Besuch auf der Station war nicht unbemerkt geblieben.
Eine eingeschlagene Fensterscheibe, eine eingerissene Nagelhaut, ein demolierter Tropf und einige andere kleine Zwischenfälle. Das Lächeln des Personals war ein wenig steifer geworden, als die Zeit verging, das hatte er registriert. Als der Geräuschpegel stieg und die Unglücksfälle sich häuften.
Wie zum Henker hält sie das aus, sagte er und gönnte sich im Schlaf ein leichtes Lächeln. Hat sicher einiges von der seelischen Kraft ihres Vaters geerbt.
Sans doute, oui.
22
»Gossecs Requiem?«, fragte der dunkellockige junge Mann und schob sich die Brille auf die Stirn. »Haben Sie Gossecs Requiem gesagt?«
»Ja«, sagte Münster. »Gibt es das nicht?«
»Doch, das schon.« Der junge Mann nickte eifrig und blätterte in einem Ordner. »Aber wir haben es nicht. Es gibt eine Aufnahme mit dem Chor des französischen Rundfunks, aus dem Jahre 59, glaube ich... aber nichts auf CD. Sie sollten sich mal bei Laudener erkundigen.«
»Bei Laudener?«
»Unten auf dem Karlsplatz. Wenn die es nicht haben, können wir noch immer in den Antiquariaten suchen. Die Plattenfirma heißt Vertique.«
»Vielen Dank«, sagte Münster und verließ den Laden.
Draußen schaute er auf die Uhr und musste einsehen, dass
er es wohl kaum noch bis zum Karlsplatz schaffen würde. Er war für achtzehn Uhr mit Richter Heidelbluum verabredet und hatte das Gefühl, dass der alte Jurist ein etwaiges Zuspätkommen durchaus nicht schätzen würde.
Warum kann der Kommissar sich eigentlich nicht mit Bach oder Mozart begnügen, fragte er sich, als er ins Auto stieg. Warum muss er sich im Krankenhaus unbedingt diese alte Totenmesse anhören?
Er hielt in der Guyderstraat im Stadtteil Woosheim, ein ziemliches Stück von Heidelbluums
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