Das falsche Urteil - Roman
Waldseite haben niemanden gesehen«, warf Rooth ein. »Und sogar Frau Wilkerson muss doch irgendwann mal ihre Beobachtungen einstellen.«
»Oder sie und ihr Mann haben am Küchenfenster Schichtdienst eingeführt«, sagte Münster. »Das ist auch eine plausible Variante.«
»Das Motiv«, sagte Münster, als alle sich am Kaffeewagen bedient hatten. »Das ist natürlich die große Frage. Was die Indizien angeht, so wissen wir nicht einmal, welche Fragen wir stellen sollten... vielleicht würde es einen gewissen Unterschied machen, wenn wir noch ein paar Körperteile auftreiben
könnten, aber so, wie die Lage jetzt ist, müssen wir uns einige Spekulationen erlauben können. Also, was glaubt ihr? Rooth?«
Rooth schluckte hastig ein halbes Stück Kaiserkuchen herunter.
»Ich glaube, wir sollten davon ausgehen, dass jemand auf seine Entlassung gewartet hat«, sagte er. »Jemand, der es noch dazu ziemlich eilig und einen sehr guten Grund hatte, ganz schnell zuzuschlagen.«
»Hm«, sagte Reinhart. »Was denn für einen Grund?«
»Keine Ahnung«, sagte Rooth. »Lass mich einfach ein wenig weiter überlegen. Zwei Dinge sprechen für meine Annahme. Zum einen, dass Verhaven so rasch ermordet worden ist... vermutlich noch am Tag seiner Rückkehr. Zum anderen, dass jemand im vergangenen Winter im Gefängnis in Ulmenthal angerufen und gefragt hat, wann er entlassen werden würde. Im Juli kam dann noch ein Anruf... die Trottel von der Anstaltsleitung haben diese Informationen erst gestern gefunden. Als ich bei ihnen war, haben sie die mit keinem Wort erwähnt.«
»War das bei beiden Anrufen dieselbe Person?«, fragte Reinhart.
»Da sind sie sich nicht sicher, und das können wir im Grunde ja auch nicht verlangen. Es war jedenfalls beide Male ein Mann. Hat sich als Journalist ausgegeben.«
Wieder schwiegen alle für einen Moment.
»Und welchen Grund sollte dieser Mann haben, um Verhaven aus dem Weg zu räumen?«, frage Moreno.
»Hrm«, sagte Rooth. »Keine Ahnung. Wir gehen natürlich davon aus, dass es irgendeinen Zusammenhang mit den Beatrice- und Marlenegeschichten gibt... aber das muss natürlich nicht so sein.«
»Blödsinn«, sagte Reinhart.
»Was meinst du mit Blödsinn?«, fragte Rooth und kratzte sich leicht gereizt im Bart.
»Natürlich gibt es einen Zusammenhang«, sagte Reinhart. »Die Frage ist nur, welchen.«
Münster betrachtete die Versammlung am ovalen Tisch. Es wäre zweifellos eine Hilfe, wenn Reinhart sich wirklich in den Fall einschaltete, dachte er.
DeBries steckte sich eine Zigarette an.
»Können wir nicht ein wenig schneller vorgehen?«, fragte er. »Es gibt doch nur zwei Alternativen, so, wie ich das sehe. Ich dachte, so dächten wir alle.«
»Na gut«, sagte Rooth. »Entschuldige meine wissenschaftliche Vorgehensweise. Wer immer Leopold Verhaven ermordet hat, hat es vermutlich getan, weil er ihn verabscheute, hasste... ihn noch härter bestrafen wollte. Jemand, dem vierundzwanzig Jahre nicht genug waren. Der einen endgültigen Schlussstrich ziehen wollte, gewissermaßen... oder jemand, der etwas zu verbergen hatte.«
»Was denn?«, fragte Reinhart.
»Etwas, von dem Verhaven wusste«, sagte Rooth, »und das er wohl irgendwo anbringen wollte, sowie er wieder auf freiem Fuße war. Oder zumindest glaubte das der Mörder.«
»Was denn?«, fragte Reinhart noch einmal.
Rooth zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Auf jeden Fall muss es für den Mörder ungeheuer wichtig sein, dass es nicht herauskommt.«
»Wenn wir davon ausgehen, dass es mit den beiden früheren Fällen zu tun hatte, dann gibt es eigentlich nur eine Alternative«, sagte Münster.
»Ihr meint...«, fragte Reinhart.
»Ja«, sagte Rooth. »Wir meinen. Und wenn wir bis hierhin Recht haben, dann kann das sehr gut bedeuten, dass Verhaven die Morde, für die er verurteilt und bestraft worden ist, nicht begangen hatte... und dass er auf irgendeine Weise die Identität des wirklichen Täters in Erfahrung gebracht hat. So ist das. Aber das ist natürlich ein arg dünner Faden.«
»Wie?«, fragte Münster nach einer halben Minute. »Wie hätte Verhaven das in Erfahrung bringen können?«
Es gab bei ihm und bei den anderen eine ziemlich starke Abneigung gegen diese Möglichkeit, das war deutlich. Und das war ja nur gut so. Obwohl niemand unter ihnen mit den Fällen zu tun gehabt hatte und Verantwortung trug, so waren Verhavens vierundzwanzig Knastjahre doch zu einem großen Teil den Bemühungen ihrer
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