Das falsche Urteil - Roman
solange wir noch Kinder sind, aber für Erwachsene muss das soziale Netzwerk sich doch
bisweilen anfühlen wie ein Stacheldraht. Aber Kaustin hat also nichts, was es von anderen kleinen Orten unterscheidet?«
Moreno zweifelte.
»Na ja«, sagte sie und biss sich vorsichtig in die Unterlippe. »Ich weiß nicht. Verhavens Schatten lastet natürlich noch auf ihnen, und das ist ja auch kein großes Wunder. Offenbar hat eine Abordnung der Einwohner nach dem zweiten Mord eine Namensänderung beantragt.«
»Eine Namensänderung?«, fragte Rooth.
»Ja. Sie wollen den Namen Kaustin loswerden. Dachten wohl, dass alle den mit Verhaven und den Prozessen verbinden würden... hatten das Gefühl, in der Mörderstadt zu wohnen. Im Laden lag eine Unterschriftenliste aus, aber die Sache ist dann schließlich im Sande verlaufen.«
»Das ist ja auch alles nicht ganz unverständlich«, sagte Münster. »Wenn wir das aber ein wenig konkretisieren könnten. Was habt ihr herausgefunden?«
»Tja«, sagte deBries. »Wir haben mit ungefähr zwanzig Menschen gesprochen. Die meisten waren alt, wohnen ihr Leben lang dort und können sich an alles gut erinnern. Außerdem ziehen da wohl kaum Leute hin oder weg... und es geht insgesamt um nicht mehr als sechshundert Seelen. Dabei ist der Ort schön gelegen... See und Wald und offene Landschaft und überhaupt.«
»Viele wollten nur ungern über Verhaven reden«, fügte Moreno hinzu. »Schienen alles vergessen zu wollen, als sei das eine Schande für den ganzen Ort... was es ja im Grunde vielleicht auch ist.«
»Gibt es noch mehr?«, schaltete Reinhart sich ein.
»Wie meinst du das?«
Reinhart stocherte mit einem Streichholz in seinem Pfeifenkopf herum.
»Hattet ihr den Eindruck, dass sie... etwas zu verbergen haben, sozusagen? Verdammt, das brauche ich doch wohl
nicht zu erklären, das ist eine Frage der Stimmung, einfach nur. Und eine Frau müsste das wahrnehmen.«
»Danke«, sagte deBries.
Jetzt fangt hier bloß keinen Streit an, dachte Münster. Ich hab keine Lust, dieses Band auch noch redigieren zu müssen.
»Vielleicht«, sagte Moreno nach kurzem Nachdenken. »Aber das ist nur ein ganz vages Gefühl. Vielleicht haben sie allesamt eine Leiche im Keller – bildlich gesprochen, natürlich... und haben einfach allesamt ein wenig Angst voreinander. Das gehört doch auch zum Kaffsyndrom, oder? Nein, ich weiß nicht.«
Münster seufzte.
»Ihr habt sie doch auf jeden Fall ein wenig unter Druck gesetzt?«
»Natürlich«, sagte deBries. »Der Schlachter ist zum Beispiel ein mieser Typ. Hat zwei Geliebte in der Stadt. Oder hatte sie. Vielleicht war er auch einige Male mit Beatrice Holden zusammen, ehe die sich auf Verhaven verlegt hat, aber das steht nicht fest. Sie war offenbar eine attraktive Frau. Und nicht unmöglich zu überreden.«
»Bei ihr und Verhaven ging’s manchmal hoch her, wenn ich das richtig verstanden habe?«, fragte Reinhart.
»Kannst du wohl sagen«, erwiderte Moreno. »Offenbar ungefähr wie zwischen Hund und Katze. Sie sind bisweilen aneinander geraten... nur eine Woche vor dem Mord hat sie mitten in der Nacht bei einem Nachbarn angeklopft und um Schutz gebeten. Er hatte sie offenbar übel zugerichtet ... sie war nackt, nur in eine Decke gewickelt.«
»Und haben sie sie hereingelassen?«
»Sicher. Sie hat auf dem Sofa geschlafen. Sie war arg betrunken, hat aber behauptet, sie werde Verhaven am nächsten Tag anzeigen. Wegen Misshandlung und allem Möglichen.«
»Aber als sie am Morgen aufwachte«, fügte deBries hinzu,
»wickelte sie sich einfach in ihre Decke und ging zu ihm zurück.«
»Pfui Teufel«, sagte Reinhart. »Die krankhafte Blässe der späteren Einsicht.«
»Schwachheit, dein Name ist Weib«, sagte Moreno mit kurzem Lachen.
»Hrrm«, sagte Münster. »Sonst noch was?«
»Einiges über seine Kindheit und Schulzeit«, sagte Moreno. »Der Hausmeister aus der Schule lebt noch. Er ist fast neunzig, aber ungewöhnlich klar im Kopf und durchaus aussagebereit. Verhaven war offenbar von Anfang an schon ein ziemlicher Sonderling. Einsam. Verschlossen. Aber stark. Die anderen haben ihn respektiert... und seine Launen sind bezeugt.«
Münster nickte.
»Bestimmt haben auch einige ihn für unschuldig gehalten«, sagte deBries. »Zumindest am Beatricemord. Aber heutzutage mag das natürlich niemand mehr offen zugeben.«
»Wieso nicht?«, fragte Jung.
»Selbes Boot«, murmelte Reinhart.
»So ungefähr«, sagte deBries. »Sich in den Laden in Kaustin
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