Das falsche Urteil - Roman
Vorgänger und ehemaligen Kollegen zu verdanken. Natürlich waren sie das.
Kollektive Schuld? Ein weitergegebenes Gefühl des Versagens? War das nicht in diesem Moment so deutlich im verräucherten Besprechungszimmer wahrzunehmen? Auf jeden Fall glaubte Münster diesen leichten Widerstand im abermaligen Schweigen seiner Kollegen zu spüren.
»Ja«, sagte Rooth endlich. »Wir haben ja diese Frau.«
»Diese Frau?«, fragte Reinhart.
»Eine Frau hat ihn besucht. Offenbar eine alte Frau, die am Stock ging ... das war ungefähr ein Jahr vor seiner Entlassung. Sie wissen das noch, weil sie der einzige Besuch war, den er in der ganzen Zeit empfangen hat.«
»Zwölf Jahre«, sagte deBries.
»Wer war das?«, fragte Moreno.
»Das wissen wir nicht«, sagte Rooth. »Wir haben sie noch nicht ausfindig machen können. Jedenfalls hat sie angerufen und für einige Wochen darauf ihren Besuch angekündigt ... also im Mai 1992. Ja, sie hat sich Anna Schmidt genannt, aber das war sicher nicht ihr richtiger Name. Wir haben mit einem Dutzend Anna Schmidts gesprochen, aber das bringt ehrlich gesagt überhaupt nichts.«
Münster nickte.
»So ist das«, sagte er. »Auf jeden Fall scheint Verhaven genau der Typ gewesen zu sein, der endlos lange auf seinem Wissen herumbrüten kann. Es ist kein Wunder, dass er Gefängnisleitung oder Polizei nichts mitgeteilt hat. Er scheint
dort ja ohnehin mit kaum einem Menschen gesprochen zu haben.«
»Stimmt«, sagte Rooth. »Komischer Vogel, aber das haben wir ja schon festgestellt.«
»Bekannte und Verwandte?«, fragte Münster. »Der Opfer, meine ich.«
Assistent Jung schlug seinen Notizblock auf.
»Nichts, was uns wirklich weiterhilft, fürchte ich«, sagte er. »Stauff und ich haben die meisten aufgesucht. Was Beatrice Holden angeht, so ist im Grunde nur noch ihre Tochter übrig. Und natürlich der Kaufmann, aber sie war nur seine Kusine zweiten Grades oder so und sie hatten niemals engeren Kontakt. Die Tochter ist jetzt fünfunddreißig, hat Mann und vier eigene Kinder, die offenbar nichts von ihrer Großmutter wissen... ich sehe eigentlich auch keinen Grund, diese Wissenslücke zu schließen.«
»Und die andere?«, fragte Münster. »Marlene Nietsch?«
»Die hat einen Bruder und einen Verflossenen, die beide wohl keine großen Sympathien für Verhaven hegen. Sind aber beide ziemlich zweifelhafte Typen. Carlo Nietsch hat zweimal gesessen, Hehlerei und einige Einbrüche. Maarten Kuntze, der Verflossene, ist halbtags Alkoholiker und halbtags Frührentner.«
Reinhart grunzte.
»Den kenne ich«, sagte er. »Hab vor zwei Jahren versucht, ihn in einer Drogensache zum Singen zu bringen. Hat aber nicht viel gebracht, das muss ich sagen.«
»Sie wohnen auf jeden Fall hier in der Stadt«, sagte Jung, »aber ich glaube nicht, dass sie etwas damit zu tun haben. Marlene Nietsch hatte ja allerlei Kontakte, aber nur mit Kuntze und noch einem hat sie jemals zusammengewohnt. Der andere heißt Pedlecki. Wohnt in Linzhuisen und scheint nicht sonderlich zu trauern. Nicht nach ihrer Ermordung und jetzt auch nicht.«
Er blätterte in seinem Notizblock.
»Das gilt auch für die meisten anderen, mit denen wir gesprochen haben«, fügte er hinzu. »Marlene Nitsch hatte offenbar ihre Schattenseiten.«
»Sonst keine Verwandtschaft?«, fragte Reinhart.
»Doch«, sagte Jung. »Eine Schwester in Odessa, ausgerechnet.«
Münster seufzte.
»Möchte jemand ein Bad im Schwarzen Meer nehmen?«, fragte er. »Machen wir eine Pause und vertreten uns ein wenig die Beine? Ich muss ohnehin das Band wechseln.«
»Aber nur eine kurze, wenn ich bitten darf«, sagte Reinhart. »Ich muss zu Hiller und um Aufschub flehen, ehe er nach Hause geht.«
»Fünf Minuten«, sagte Münster.
25
»Und diese Stadt?«, fragte Münster. »Was habt ihr davon für einen Eindruck?«
»Provinziell«, sagte deBries. »Assistentin Moreno und ich haben dort zwei volle Tage verbracht und halten sie beide für den Inbegriff eines Kaffs.«
»Ich bin in so einem Ort geboren«, sagte Moreno. »Bossenwühle bei Rheinau. Und ich muss sagen, ich kenne mich da aus. Jeder kennt jeden. Man weiß genau, was alle anderen so treiben. Keine Privatsphäre. Man ist, wer man ist, es ist wichtig, sich zusammenzureißen und bedeckt zu halten, keinen falschen Schritt zu machen gewissermaßen ... schwer, das genau zu beschreiben, aber ihr kennt so was doch?«
»Aber sicher«, sagte Münster. »Ich bin ebenfalls auf dem Land geboren. Das geht gut,
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