Das falsche Urteil - Roman
Ich habe sie am selben Abend verlassen.«
»Am selben Abend?«, wiederholte Jung.
»Ich habe einfach eine Tasche mit dem Nötigsten gepackt. Und mich in den Zug gesetzt.«
Er verstummte. Jung dachte nach. Wohin er wohl gefahren ist, dachte er, hielt das aber nicht für so wichtig.
»Und Ihre Tochter?«, fragte er stattdessen. »Ich meine, Beatrices Tochter. Es muss Ihnen doch schwer gefallen sein, ein Kind zu verlassen, das Sie für Ihr eigenes gehalten hatten?«
Cuppermann gab keine Antwort. Er starrte den Tisch an und biss die Zähne zusammen.
»Hatten Sie denn nie einen Verdacht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Ich hätte natürlich einen haben sollen. Aber ich war jung und unerfahren ... so war das eben.«
»Haben Sie sie danach noch wiedergesehen?«
»Nein.«
»Und Christine auch nicht?«
»Ich habe sie in Kaustin besucht. Nach dem Mord. Aber nur einmal. Sie war damals vier und wohnte bei ihrer Großmutter... bei Beatrices Mutter. Sie wollte wohl nichts von
mir wissen, die Großmutter, meine ich, und deshalb habe ich es dabei belassen.«
»Ich verstehe«, sagte Jung. »Und der Vater... der echte Vater, meine ich. Wissen Sie etwas über ihn?«
Cuppermann schüttelte den Kopf.
»Seemann, glaube ich. Hab ihn nie wiedergesehen.«
»Und Beatrice auch nicht, nachdem Sie sie verlassen hatten?«
»Woher soll ich das wissen?«
Nein, dachte Jung, als er sich von David Cuppermann verabschiedet hatte. Wenn es der Polizei in dreißig Jahren nicht gelungen war, Claus Fritze ausfindig zu machen, dann wäre es doch zu viel verlangt, wenn das seinem armen gehörnten Rivalen gelungen sein sollte.
Rooth drückte auf den Klingelknopf und die Tür wurde so rasch aufgestoßen, dass er zurückspringen musste, um nicht davon am Kopf getroffen zu werden. Arnold Jahrens hatte ihn zweifellos schon erwartet.
»Herr Jahrens?«
»Kommen Sie herein.«
Jahrens war groß und kräftig und wirkte mindestens zehn Jahre jünger als seine fünfundsechzig. Oder waren das sechzig? Auch egal, beschloss er und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl am Küchentisch.
»Ja ja«, sagte Jahrens. »Es geht mal wieder um Verhaven, wenn ich das richtig verstanden habe. Und um Frau Holden.«
»Genau«, sagte Rooth. »Sie wissen, was passiert ist?«
»Hab ich in den Zeitungen gelesen«, sagte Jahrens und nickte zu einer Ecke hinüber, wo die Zeitungen offenbar aufgestapelt wurden. Das Neue Blatt und der Telegraaf, wie Rooth feststellen konnte.
»In der Tat«, sagte er. »Ja, wir tappen ein wenig im Dunkeln, wenn ich ehrlich sein soll... also machen wir ein bisschen
Inventur, könnte man sagen. Bei allen, die auf irgendeine Weise mit dem Fall zu tun hatten.«
»Ich verstehe«, sagte Jahrens und schenkte Kaffee ein. »Zucker?«
»Drei Löffel«, sagte Rooth.
»Drei?«
»Habe ich drei gesagt? Ich meinte anderthalb.«
Jahrens lachte.
»Ich habe Zucker genug«, sagte er. »Natürlich kriegen Sie drei Löffel, wenn Sie wollen.«
»Danke«, sagte Rooth. »Also, ich will Ihnen nicht lange zur Last fallen, deshalb sollten wir vielleicht gleich zur Sache kommen. Sie waren also Verhavens Nachbar... wann sind Sie dort übrigens fortgezogen?«
»85«, sagte Jahrens. »Wir hatten keine Kinder, die den Hof übernehmen konnten, und statt uns abzuplacken wollten wir unseren Lebensabend lieber in der Stadt verbringen. Das macht schon einen Unterschied, wissen Sie.«
»Ihre Frau...«, fragte Rooth.
»Ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Das tut mir Leid. Aber zur Sache, wie gesagt. Ich möchte Sie bitten, mir zu erzählen, wie dieses Paar auf Sie gewirkt hat, Leopold Verhaven und Beatrice Holden. Sie müssen doch einiges beobachtet haben. Und in der Nacht vor dem Mord war sie doch auch bei Ihnen?«
»Ja, irgendwas merkt man wohl immer«, meinte Jahrens. »Und ja, sie ist zu uns gekommen. Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Sie halten ihn doch wohl nicht für unschuldig? Im Telegraaf wurde so etwas ja angedeutet...«
»Wir wissen es nicht«, gab Rooth zu. »Auf jeden Fall hat jemand ihn ermordet. Dafür muss es einen Grund geben, und ehe wir den kennen, müssen wir von allen möglichen vorstellbaren Alternativen ausgehen.«
»Ja ja«, sagte Jahrens und fischte mit dem Löffel ein Plätzchen aus seiner Tasse. »Ja, sie waren immer ein wenig wie
Hund und Katze. Nicht viele von uns waren von dem Ende wirklich überrascht... von uns im Ort, meine ich. Ich will ja nicht behaupten, wir hätten erwartet, dass er sie
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