Das Familientreffen
Schwester Kitty nach Broadstone geschickt, um eine Weile bei Ada zu bleiben. Das war zwar nur ein paar Kilometer von unserem Haus entfernt – heute weiß ich das natürlich -, aber als wir Kinder waren, hätte es genauso gut Timbuktu sein können. Es war eine Welt für sich, eine kleine Enklave in der Nähe des Stadtzentrums von Dublin, mit Arbeiterhäuschen, die wie Legosteine zusammengesetzt waren.
Ich glaube, auch als Kitty noch ein Baby war, sind wir dorthin geschickt worden. Zu der Zeit gab es eine Lücke in der Fortpflanzungstätigkeit meiner Mutter, und ich denke an jene Jahre als die Jahre der toten Kinder, die Jahre, die meine Mutter gezeichnet und sie zu dem Geschöpf gemacht haben, das ich später kannte.
Ich weiß nicht, wie diese Episoden genannt wurden. Ledige Frauen hatten »Zusammenbrüche«, aber damals hatten verheiratete Frauen einfach nur noch mehr Babys – oder gar keine Babys mehr. Mammy jedenfalls kam wieder in Gang, 1967 mit Alice (was hätten wir nur ohne Alice gemacht!), und gleich danach wurden Ivor und Jem geboren. Ich vermute, ihr letzter »Nervenanfall« wurde durch die Ungerechtigkeit von Zwillingen ausgelöst. Mit Sicherheit lagen auf ihrer Untertasse mit Brufen und Warfarin immer auch Beruhigungspillen, und solange ich sie kenne, hatte sie immer wieder den Tatterich und unerklärliche Schwierigkeiten und plötzliche Weinkrämpfe.
Manchmal frage ich mich, wie sie war, bevor sie uns weggeschickt hatte, oder ob mir eigentlich bewusst wurde, was jedes Mal, wenn wir zurückkehrten, verloren gegangen war – dass eine Mammy, die mit dem Kehrbesen getanzt und das Baby auf den Bauch geküsst hatte, durch dieses Häufchen wohlmeinenden menschlichen Fleisches ersetzt worden war, das da in einem Zimmer hockte.
Adas Haus war sehr ruhig. Es war schwierig, das Geräusch des eigenen Atems nicht zu hören – wie er eingesogen und stockend wieder ausgestoßen wurde, bis man am eigenen Zögern fast erstickte. Es war die Ruhe eines Hauses ohne Kinder, und die Räume waren mit Dingen angefüllt. Da gab es Dinge auf den Kaminsimsen und kleine Dinge auf Tischen, die man nicht anfassen durfte. Es gab Schubladen voller Dinge, die seit Jahren nicht benutzt worden waren oder nur einmal im Jahr herausgeholt wurden. All diese Dinge waren etwas ganz Besonderes und so säuberlich voneinander getrennt, wie die Dinge zu Hause nie voneinander getrennt waren.
Ada selbst existierte eigenständig, wie meine Mutter es nie vermochte. Sie zankte oder flirtete mit Charlie in der Küche. Meine Eltern flirteten nie miteinander, dazu schienen sie nicht in der Lage.
»Stell den Fernseher lauter, damit Daddy die Nachrichten hören kann.«
Sie sprachen durch ihre Kinder zueinander, so wie jedes andere Ehepaar, das ich kannte. Und wenn es keine Koseworte gab, so gab es andererseits auch keinen Streit – obwohl sich bisweilen ein scharfer Unterton in ihre Unterhaltung einschlich, der ein Zeichen persönlicher Kälte oder Abscheu sein mochte.
Vielleicht irre ich mich ja auch. Vielleicht sprachen sie andauernd miteinander, aber ihre Art zu reden hatte etwas so Intimes, dass ich es nicht verstehen oder im Gedächtnis behalten konnte – so wie es schwierig ist, sich an das eigentümliche Lachen eines Menschen zu erinnern, den man geliebt hat.
Aber dass Ada mit Charlie flirtete – daran erinnere ich mich: Ada, wie sie sich vom Herd zum Tisch drehte und dazu sang, wenn sie Charlies Abendessen auf den Tisch stellte. Und ich erinnere mich an ihre Dinge – die Kommode oben auf dem Gang, vollgestopft mit Stoffresten und Tuchfetzen, an ihre Musterkataloge, deren Seiten man umblättern konnte wie die weichen Seiten eines Buches, das keine Geschichte enthielt, lediglich ein Muster nach dem anderen. Auf dem Kaminsims in Adas Schlafzimmer stand eine Vase aus geschliffenem Glas voller Federn. Ich erinnere mich an das Knistern ihrer Strohhüte und an den Geruch der Filzhüte, die sie ganz unten in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte. All dies vermutlich aus meiner zimperlichen Jungmädchenphase, als ich acht oder neun war und mich damit vergnügte, Dinge zu falten, zu glätten und heimlich beiseitezuschaffen. Bis auf den Geruch der Hutinnenseiten – an den erinnere ich mich aus der Zeit, als ich drei war.
Wir blieben nur gelegentlich im Haus, die meiste Zeit waren wir draußen auf der Straße oder spielten am Basin, einem künstlichen See, dessen Wasser einst zur Herstellung von irischem Whiskey gedient hatte. Es war dieser
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