Das Familientreffen
Kittys Oberarm mit einem Ring blauer Flecken brandmarkte und uns, während er sie festhielt, eine wutentbrannte Predigt über das Thema Gottlosigkeit hielt. Und ich kann mich an kein einziges Wort davon erinnern, auch nicht daran, was Ada später zum Zustand von Kittys Arm sagte, obwohl ich mich an die Beschaffenheit des lebhaft schimpfenden dicken Priestergesichts erinnere, das wie unverdünnter Fruchtsirup aussah. Und wenngleich der gesunde Menschenverstand mir sagt, dass diese beiden Vorfälle nicht am selben Tag stattgefunden haben können, behaupte ich das Gegenteil, und als mir viele Jahre später ein Mann, seinen steifen Schwanz in der Hand, durch die Seitengassen von Venedig nachstellte, flüchtete ich mich in eine Kirche, als wollte ich noch Schlimmeres heraufbeschwören – stattdessen kam aber nichts: nur leere Bänke, verschimmelte Wände, ein Stück Papier unter einem schmutzigen Ölgemälde mit der Kugelschreiberaufschrift » di Tintoretto «. Es gab eine dunkle Seitenkapelle, an deren Decke der Himmel selbst gemalt war, zumindest wenn man eine Hundert-Lire-Münze einwarf, um die Beleuchtung einzuschalten. Abgesehen davon war alles schäbig und still. Es gab nichts Schlimmeres, was mir widerfahren würde. Ich kniete nieder mit dem Rücken zum flimmernden weißen Rechteck der offenen Tür, doch kein Italiener schlich sich von hinten an, kein Kind trat mit einem Schnapsglas Sperma in den Händen aus dem Beichtstuhl, kein Heiliger rührte sich. Ich neigte den Kopf und betete wie eine Frau in einem Film aus den Fünzigerjahren, ich betete, es möge mich verlassen, das erstickende Gefühl, dass ich auf diese Weise sterben würde, mein Gesicht in dreckige Gabardine gerammt, marineblau oder schwarz, den Schwanz eines Fremden im Hals und was, was, was?
Etwas dreht mir den Magen um. Ein Messer. Kein Messer.
Es ist nicht wirklich.
Aber klick-klack. Mit lautem Geräusch schaltete sich das Licht in der Seitenkapelle ein, dann folgte das langsame mechanische Knirschen, wenn das Geld von jemandem zu Ende ging. Ich kniete und beobachtete, wie Deutsche und Engländer hereinkamen, die Büchse für die Münzen studierten und den Himmel anknipsten, während hinter meinem Rücken der Italiener mit seiner Erektion an der offenen Kirchentür lungerte, oder auch nicht. (Was wollte er eigentlich damit anstellen?) Jedenfalls trat er nicht über die Schwelle, und als ich meinen verzweifelten atheistischen Gebetsrausch beendet hatte, wandte ich mich um und stellte fest, dass er verschwunden war. Was für eine Erleichterung. Nur dass er jetzt, wenn ich durch die Straßen ging, überall sein könnte.
Wir waren brave Kinder, meistens. Ich bilde mir ein, dass wir brave Kinder waren, in jenen Tagen in Broadstone. Ein bisschen still, ein bisschen ängstlich vielleicht. Liam war besonders anfällig für jähe Stimmungs- und Richtungswechsel, aber die waren genauso oft lustig, wie sie erschreckend waren, und obwohl Kitty eine Nervensäge war, so war sie es doch auf kindliche Art, und es war kein Arg an uns, an das ich mich erinnern könnte – wieso auch?
9
Der Mann neben mir im Zug nach Brighton hebt sein Becken leicht an und drückt es dann wieder in den Sitz. Im sinnlich flackernden Sonnenlicht schlummert er vor sich hin, eingelullt und aufgerüttelt von der Bewegung des Zuges. Ich kann spüren, wie sich in seinem Schoß das Blut sammelt, sein dicker, länglicher Penis schlängelt sich das Hosenbein seines Anzugs hinab.
Noch so einer.
Andererseits gibt es nichts, worüber man sich aufregen müsste – ein junger Geschäftsmann, der neben einem im Zug einen Ständer hat -, selbst wenn man erst kürzlich einen Trauerfall in der Familie hatte. In meiner gegenwärtigen Verfassung finde ich die Hydraulik der Sache noch sonderbarer als sonst. Dass so kleine Dinger so große Folgen haben. Ich überlege kurz, ob Liam wohl noch leben würde, wenn er als Frau und nicht als Mann zur Welt gekommen wäre. Und da ist er plötzlich, schielt hinter dem Getränkewagen hervor, mit einem Dick-Emery-Kopftuch und einem riesigen Entlastungs-BH.
Hallo! Ich lebe!
Und ich sage »Nein, danke« zu der ganz und gar ehrbaren Dame, die »Erfrischungen?« anbietet, während der Mann neben mir nach einer Zeitung greift, um seinen Schoß zu verhüllen.
Harmlos. Harmlos. Harmlos.
Und ich schließe die Augen.
An dem Abend nach Rebeccas Geburt kam Liam in mein Krankenhauszimmer. Er kreuzte einfach auf, mit einem Strauß rosafarbener Blumen aus dem Laden
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