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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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hätte das viele Bumsen ihn zermürbt. »Er wäre so stolz, euch alle hier zu sehen«, sagte einer der Nachbarn. »So stolz. Alle in einer Reihe, wie die Orgelpfeifen.« Gesagt hab ich’s nicht, aber ich glaubte es nicht – nicht wirklich. Ich glaubte nicht, das er besonders stolz gewesen wäre.
    Er sprach wunderbares Irisch. Für ihn war die Sprache ein romantischer Ort, und für mich ist sie der Ort, wo ich ihn liebe, selbst heute noch.
    Er war nicht der Schlechteste. Daddy war Dozent an der örtlichen Pädagogischen Hochschule, und deshalb war er, dank langer Ferien und kurzer Unterrichtsstunden, oft zu Hause, lenkte, dirigierte, ordnete den Verkehr, vom Frühmarkt brachte er Kisten mit Wintergemüse nach Hause, als müsse er nicht eine Familie versorgen, sondern ein ganzes Sommerlager. Obwohl das alles zu irgendeinem Zeitpunkt aufgehört haben muss – als ich auf die weiterführende Schule ging, lebten wir davon, dass wir die Zwillinge zum Eckladen schickten, um Speckscheiben zu kaufen. Ernest oder Mossie klimperte in der Hosentasche mit dem Kleingeld, um zu prüfen, ob es für ein warmes Frühstück reichte. Keiner der Hegartys war geizig. Selbst ich, die Abgebrühteste von allen, bin nicht knauserig. Das ist mehr als nur Sozialverhalten, das ist wie ein religiöses Tabu. Ein geiziger Mensch verursacht mir heute noch eine Gänsehaut, ich muss mich umdrehen und wegsehen.
    Was also bin ich demzufolge?
    Ich zahl doch für den ganzen Scheiß.
    Eine Störung der natürlichen Ordnung, das bin ich.
    Unterdessen rattert der Zug durch England, rattatat-rattatat, und Bea redet weiter, sie sitzt mit einer Schleife im Haar auf den Knien meines toten Vaters, ganz das brave kleine Mädchen, das sie immer gewesen ist, und ich blicke auf die Hügel und versuche erwachsen zu werden, versuche meinen Vater sterben zu lassen, versuche meine Schwester in die Adoleszenz (ganz zu schweigen von der Menopause) eintreten zu lassen. Und nichts von alldem ist möglich. Nichts davon. Draußen in der Landschaft ist eine Linie zu sehen, die sich nicht voranbewegen will, stattdessen rutscht sie rückwärts. Auf sie hefte ich meinen Blick.
    »Viel Glück in Brighton«, sagt Bea, und ihre Stimme reißt mich hinaus in die Büsche, die vorüberpeitschen.
    »Danke«, sage ich. »Kümmere dich um Mammy.« Ich klappe mein Handy zu und frage mich, ob ich die Wörter »Leiche«, »Sarg« oder »Leichnam« in das wohlerzogene englische Schweigen des Zugabteils gesprochen habe. Ich denke, dass ich lieber Dreck fressen würde, als in unserem alten Wohnzimmer am Sarg meines Bruders mit den Nachbarn – was? – Angels on Horseback zu essen.
    Dieser Scheißteppich.
    Und nicht nur mit den Nachbarn, sondern auch mit den Überbleibseln von Midge-Bea-Ernest-Stevie-Ita-Mossie-Liam-Veronica-Kitty-Alice-und-den-Zwillingen-Ivor-und-Jem. Mit den Toten, den Frommen und den Büroleitern (ebenso mit den Hausfrauen, Exjournalistinnen, verkrachten Schauspielerinnen, Anästhesisten, Landschaftsgärtnern, irgendwas mit IT und noch irgendwas anderes mit IT). Wir werden uns umblicken und sagen: einer weniger. Einer weniger. Während die Kinder umhertollen und mit ihrem Gekreische das Haus bis auf den Rohputz ausräumen. Rebecca wird mit ihrer Cousine Anuna spielen, die eigentlich meine Großnichte ist – fragen Sie mich nicht, »um wie viele Ecken« wir miteinander verwandt sind, was auch immer das bedeutet.
    Ach! Er war verzweifelt – das werden wir sagen. Er war ein schrecklicher Chaot. Er war immer so erfüllt von allem. Er hat’s einfach nicht gepackt. Er hatte ein gutes Herz. Hatte Köpfchen. Er war die Seele jeder Party, werden wir sagen. Ach, und sein Witz! Er hatte eine scharfe Zunge, da gibt’s keinen Zweifel! Aber er war sehr sensibel. Das Besondere an Liam war seine Sensibilität. Man hatte das Gefühl, sich um ihn kümmern zu müssen. Er taugte nicht für diese Welt. Nicht so richtig.
    »Ja«, werde ich sagen. »Er war ein Kasper.«
    Ich weiß nicht, ob es meine früheste Erinnerung an Liam ist, aber sicherlich ist es eine meiner deutlichsten: wie er durch einen Maschendrahtzaun in einen spiegelglatten See auf der anderen Seite pinkelte.
    »Wuuiii!«
    Die Pisse zischte erst gegen den Draht und dann durch ihn hindurch, während ich auf Rollschuhen an ihm vorbeifuhr. Rollschuhe! Wenn ich mich heute an die erinnere, denke ich, dass auch Ada uns verwöhnt haben muss.

8
    Als ich acht war, und Liam gerade einmal neun, wurden wir zusammen mit unserer kleinen

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