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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Umstand, der Liam nachgerade dazu verpflichtete, hineinzupinkeln, und dies ist das Bild, das ich von ihm im Kopf habe: ein kleiner Junge, der mit dem Hintern wackelt, um seine Pisse in hohem Bogen durch die Luft abzuschlagen, und der Urin spritzt gegen den Draht oder ergießt sich plötzlich ungehindert durch eine Masche im Zaun.
    Dann galt es, die Bastion des Busbahnhofs in Broadstone zu erstürmen, eine düstere Mauer, die wie ein Felsvorsprung aus dem Hügel gehauen war, mit einer Statue der Jungfrau Maria obenauf. Wir lungerten am Tor herum, und eines Tages stahlen wir uns endlich hinein, dorthin, wo die Doppeldeckerbusse in Reih und Glied geparkt waren, duckten uns und krochen an den Bussen entlang, bis einer von uns – es muss Liam gewesen sein, schwerlich ich – zum Türgriff hinauflangte, der wie der Zeiger einer Sonnenuhr in einem Halbkreis neben der Tür angebracht war.
    Pttsch.
    Man konnte sie an dem blauen Kunstleder der Sitze riechen, die Leute, die hier gesessen hatten und wieder aufgestanden waren, damit andere Leute sich setzen und wieder aufstehen konnten, Minute um Minute, Tag um Tag, mit ihren Einkäufen und ihrem gewöhnlichen Leben. Und obwohl wir die Sitze nicht aufschlitzten und das Wagendach nicht mit Graffiti beschmierten, war der Bus so leblos und leer, als wir durch ihn hindurchrannten, dass uns klar wurde, uns allen dreien, wie ausgeschlossen wir von allem waren, abgeschoben zu unserer Granny – die uns plötzlich nichts mehr bedeutete -, und wie sehr wir unsere Eltern vermissten, die uns immer weniger bedeuteten. Als Liam die Halbtür der Fahrerkabine aufklinkte, hatte ich einen Moment lang das schwindelerregende Gefühl, dass er das Ding tatsächlich fahren könnte, dass wir den Constitution Hill hinunterschlingern könnten, dann hinauf bis nach Phibsboro, wo unsere rechtmäßige Familie ohne uns aufwuchs, und darüber hinaus.
    Und dann wurden wir ertappt. Ich war oben und hörte, wie mir später klar wurde, nichts außer den klappernden Sandalen von Liam und Kitty, die schon Reißaus nahmen; Liam, der sich in letzter Minute umdrehte, um mir etwas zuzurufen, was ich auch hörte, meinen Namen, der aus irgendeinem Grund von außerhalb des Busses zu mir hereindrang, während auf der Treppe im Innern das Geräusch eines Mannes zu hören war und auf dem verchromten Geländer seine Hand sichtbar wurde, wie er sich Schritt für Schritt hinaufhievte, bis schließlich sein Oberkörper aus der Treppenöffnung ragte wie ein sich ausdehnender Ballon. Oben angekommen, blieb er stehen und sah mich an. Er trug eine Schirmmütze und das reguläre blaue Hemd, das zum Platzen eng über einem ungeheuer dicken Bauch zugeknöpft war, jener Art von Bauch, die man mit einem Gürtel zusammenhalten muss, so wie eine Brust einen Büstenhalter benötigt. Diesen Bauch schleppte er den Gang entlang auf mich zu, und ich wich zurück, bis ich strauchelte und auf den hintersten Sitz im Bus plumpste. Dann stupste er mich mit seinem Bauch an – und auch wenn ich bezweifle, dass all dies völlig wahr sein kann, so erinnere ich mich doch an die überraschende Straffheit und Elastizität des Bauches, wie er ihn mir mit dem äußersten weißen Knopf ins Gesicht drückte. Schließlich wand ich mich unter ihm hervor, vorbei an seinen kurzen Beinen und dem Geruch seiner Busfahrergabardine. Dann die Treppe hinab.
    »Raus!«, rief er mir nach. »Raus!«
    Ein paar Busfahrer drehten sich um und sahen mir nach, wie ich zum Tor rannte und dann hinaus.
    Es gab nur einen Weg, den ich nehmen konnte, und der führte den Constitution Hill hinunter, bis ich außer Atem war. Am Ende, daran zweifelte ich nicht, würde ich Kitty und Liam treffen. Ich fand sie jedoch erst, als ich das Kirchtor erreichte. Schon damals hatte Liam das Konzept der Freistätte entwickelt – und dass selbst ein Busfahrer in seiner Uniform einen hier nicht zu fassen bekam.
    Wir gingen hinein, um zu beten – ich glaube wirklich, dass es am selben Tag geschah -, knieten, die Idee der Verfolgung im Nacken, in der Nähe des Altars nieder, und nachdem unsere Herzen sich beruhigt hatten, sahen wir einander an, und unser Bedürfnis zu lachen verflog, als wir einer höheren, spirituellen Sphäre gewahr wurden. So sagten wir denn am Altar des heiligen Felix mit einem Gefühl frommer Hochstimmung Dank für unsere Rettung, indem wir jeder eine Kerze anzündeten und, als wir keinen Geldschlitz für unsere Pennys finden konnten, noch zwei, drei anzündeten, bis ein Priester

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