Das Familientreffen
wenn er das tut, bleibt ein kleines bisschen davon an ihm kleben. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute für Minute. Eine ganze Menge, auf die Dauer.
Liam, mein Bruder, hat die meiste Zeit seines Arbeitslebens als Krankenhauspförtner im Hampstead Royal Free verbracht. Er hat Betten die Korridore entlanggeschoben, Krebsgeschwüre in Tüten gepackt und amputierte Gliedmaßen zum Verbrennungsofen gebracht, und er hat es gern gemacht, wie er sagte. Er mochte die Kameradschaftlickeit.
Ich war früher Journalistin. Ich habe überflüssige Anschaffungen empfohlen (irgendjemand muss es ja tun). Jetzt kümmere ich mich um die Kinder – wie nennt man das?
In der Nacht der Totenwache hatte Tom Sex mit mir – als hätte Liams Tod sämtliche Spinnweben fortgeblasen: die Hektik und die Kinder und den ach so wichtigen, arbeitsreichen Job und die späten Nächte, die er angestrengt damit verbrachte, nicht mit anderen Frauen zu schlafen. Er hatte wieder zu den Wurzeln zurückgefunden: sagte mir, dass er mich liebe, sagte mir, dass mein Bruder zwar tot, er selbst aber sehr lebendig sei. Nahm seine Rechte wahr. Ich liebe meinen Mann, aber ich lag da, seine tanzenden Landjungenhüften zwischen den Beinen, und fühlte mich nicht lebendig. Ich fühlte mich wie ein Hühnchen, das gevierteilt wird.
7
Aber das hat Zeit. Das arme Hühnchen kann eine Weile warten.
Hier sitze ich also im Zug nach Brighton, um den Leichnam meines Bruders zu besichtigen, ihn abzuholen, Hallo und Auf Wiedersehen zu ihm zu sagen oder was immer man mit dem Leichnam eines Menschen anstellt, den man einmal geliebt hat. Jemandem die letzte Ehre erweisen . Es ist ein milder Herbsttag. Ich schaue aus dem Fenster und bin erstaunt, dass die Downs tatsächlich existieren. England hat für mich immer etwas Kindliches gehabt.
Haywards Heath
Wivelsfield
Burgess Hill
Hassocks
Namen, die so albern und putzig sind, dass sie erfunden sein müssen. Die ständigen Überraschungen dieser Landschaft. Dass sie tatsächlich grün und lieblich ist. Dass sie tatsächlich existiert. Sie zieht an mir vorüber, mit wechselnder Geschwindigkeit. Ein Schwaden Szenerie im Mittelgrund bewegt sich gelassen voran, während die fernen Hügel in einem schmalen Streifen leicht rückwärts fliehen. Ich versuche die Linie zu entdecken, an der entlang die Landschaft stillsteht und sich umbesinnt, und finde, dass Reisen eine widersprüchliche Angelegenheit ist, denn sich einem toten Mann entgegenzubewegen ist überhaupt keine Bewegung.
Dann ruft meine Schwester Bea an.
»Hallo?«
»Machst du Roaming?«
»Weiß nicht.«
»Wenn du in England bist, dann machst du Roaming.«
»Na schön, ich mache Roaming.«
»Ich will deine Rechnung nicht auflaufen lassen«, sagt sie. Und dann fängt sie an zu reden.
Von unserer Mutter, bei der irgendein urtümlicher Impuls den Wunsch hervorruft, dass der Sarg vor der Überführung zur Kirche ins Haus gebracht wird, damit Liam in unserem grauenhaften Wohnzimmer aufgebahrt werden kann. Obwohl – wenn man darüber nachdenkt, kann ich mir keinen besseren Teppich für einen Leichnam vorstellen, sage ich zu Bea, mit all den orangefarbenen und braunen Rechtecken.
»Es ist ein Teppich «, sagt Bea.
Und ich: »Ach komm!«
»Mach’s halt und fertig«, sagt sie.
»Mach’s halt?«, sage ich und meine: Ich zahl doch für den ganzen Scheiß.
»Daddy hätte es so gewollt«, sagt sie und meint: Ich bin die Hüterin der Flamme. Ich bin so wütend auf sie, dass ich eine Weile lang weder hören kann, was ich sage, noch was sie sagt, während die Landschaft draußen mit all ihren wechselnden Geschwindigkeiten und Richtungen am Fenster vorüberzieht und wir uns die Rückkehr auf festen Boden erkämpfen.
Natürlich hat sie recht. Daddy ist im Westen groß geworden – er wusste stets, was sich gehört. Er hatte vollendete Manieren . Die, wenn Sie mich fragen, hauptsächlich darin bestanden, niemals irgendwas zu irgendwem zu sagen. »Hallo, wie geht’s?«, »Dann auf Wiedersehen, und pass auf dich auf«. Alle menschlichen Beziehungen mussten ritualisiert werden. »Herzliches Beileid«, »Steck das Geld jetzt weg«, »Das Stück Schinken ist wirklich sehr lecker«, »Das ist deine höhere Berufung«. Mich hat das echt zu Tränen gelangweilt: diese ganze Kontrolle. Die Würde dieses Mannes, die durch das irre Tempo seiner Fortpflanzung untergraben wurde. Daddy starb 1986 an einem Herzinfarkt, und in der Vorhalle der Kirche lachten die Trauergäste darüber, als
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