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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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unten. Tom war nach Hause gegangen, um sich schlafen zu legen, die Anrufe waren erledigt, und die Leute ließen mir Zeit, mich zu erholen. Aber ich war völlig aufgedreht, führte meine neugeborene Tochter Krankenschwestern und Putzfrauen vor und fragte mich, ob es an einem Fußballspiel oder an einem Terroranschlag lag, dass alle ihre Bewunderer in Verkehrsstaus stecken geblieben waren.
    Und dann stand Liam in der Tür – ich hatte nicht einmal gewusst, dass er zu Hause war. Und hier lag ich, mit Kissen abgestützt, in eine Extraladung Schweiß gebadet, und in dem Plastikbettchen neben mir ein Neugeborenes – so zart, dass man es kaum zu berühren wagte. Liam schritt durchs Zimmer, um sie zu betrachten, und ihm wohnte etwas Gefestigtes inne, als er sich über die nächste Generation beugte, um auf besitzergreifende Art Augen, Finger, Zehen und die winzigen Poren auf ihrer Nase zu untersuchen, die mit Käseschmiere verstopft waren, sodass ich schon jetzt wegen zukünftiger Mitesser in Panik geriet.
    »Wie geht’s dir?«, könnte er gefragt haben.
    Ich glaube nicht, dass wir uns mit Küsschen links, Küsschen rechts begrüßten. Die Hegartys fingen erst gegen Ende der Achtziger mit dem Küsschengeben an, und selbst dann beschränkten wir uns auf Weihnachten.
    »Mir geht’s gut«, könnte ich geantwortet haben.
    Und er setzte sich auf den Besucherstuhl und besah sich die neue Szene: Mutter und Kind.
    »Alles gut gelaufen?« Ich erinnere mich, dass er das fragte und dass ich antwortete: »Na, jetzt, wo ich’s hinter mir habe, ja.«
    Die Wände waren gelb angestrichen, und das Sonnenlicht hatte etwas Dichtes und Ekstatisches, nun, da das Baby geboren war.
    Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, wie gut er aussähe, wie gut seine Attraktivität zur Geltung käme, wenn er eine Straße voller Fremder entlangginge, mein dicklicher Bruder. Er war glücklich, das Baby zu sehen. Bei Rebeccas Anblick wurde er zu jemandem, der mir bis in die Knochen vertraut war.
    Die Geburt hatte mir wieder zu meinem Geruchssinn verholfen, der während der Schwangerschaft seltsam eingeschränkt gewesen war, und so erlebte ich eine Art aromatischen Rausch und steckte meine Nase immer wieder in ein Glas Champagner, von dem zu trinken ich mich weigerte, doch den ganzen Nachmittag über schnüffelte ich daran. Ich konnte riechen, wie der Champagner, der Luft ausgesetzt, von Stunde zu Stunde schaler wurde. Dies war der Ort, wo ich existierte – in diesem Duft, der einem Glas Champagner entstieg -, verglichen damit wirkte selbst Liams Kleidung aufdringlich.
    Ich sagte ihm, unsere Mutter habe angerufen, und sie habe geweint.
    »Geweint?«, fragte er.
    »Sie hat geglaubt, wir wären alle unfruchtbar«, sagte ich, obwohl ich wegen meines Verrats einen Anflug von Reue verspürte. Es hatte mich durchaus gefreut, von ihr zu hören.
    Eine Weile lang unterhielten wir uns über sie.
    Er beäugte das Glas auf dem Nachttisch, und ich erklärte ihm, es sei nur ein Piccolo, wie man ihn im Flugzeug bekomme. Aber bevor er ging, trank er den Champagner, so warm und abgestanden und eklig er war, für mich aus und störte sich auch nicht an dem stechenden Gestank, den ich langsam in den Raum abließ. Es machte mir nichts aus. Ich sagte ihm, ich sei froh, den Champagnergeruch los zu sein.
    Jetzt, da ich im Zug nach Brighton sitze, versuche ich, die Trunksucht meines Bruders zu datieren. Alkohol war nicht sein Problem, aber am Ende wurde er sein Problem, und das war ein Trost für alle, die mit ihm zu tun hatten. »Ich mache mir Sorgen, weil er trinkt« – und nach einer Weile hörte keiner mehr genau hin, wenn er etwas sagte.
    Und das war auch das einzig Mögliche, denn er gab nur noch Stuss von sich. Der Alkohol richtete ihn zugrunde, wie jeden. Aber ich versuche, es zu datieren – wann ich aufhörte, mir Sorgen um ihn zu machen, und anfing, mir stattdessen Sorgen um seine Trinkgewohnheiten zu machen. Vielleicht damals – als mein Neugeborenes immer wieder die Augen öffnete, als wolle es sich vergewissern, dass die Welt noch vorhanden sei. Vermutlich war das der Zeitpunkt. Genau jener Moment.
    Ein Trinker lebt nicht. Was immer er von sich gibt, es ist der Alkohol, der aus ihm spricht. Oder er lebt nur im jeweiligen Augenblick. So wie jetzt, da er vor einer gelben Wand sitzt und seine Lieblingsschwester ansieht, der gerade ein Kind aus der Scheide gezogen worden ist. Ein Blick ins Auge wie in alten Zeiten. Dem Rest ist nicht zu trauen.
    Ich konnte den

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