Das Familientreffen
Hals niederließ. Sie landete und spazierte auf der Haut umher, ungestört von den tiefen Falten in seinem weichen Fleisch oder von den paar abstehenden Haarsträhnen. Ada bewegte sich oder machte Anstalten, sich zu bewegen, und die Fliege erhob sich und trat erneut die Flucht zum Rollo an, wo sie diesmal einen Weg um dessen helle Kante herum fand und gegen die Scheibe prallte, auf der sie brummend immer wieder auftraf. Eine Weile lauschten wir ihr, lauschten dem Rosenkranzgemurmel draußen und dem Geräusch, das die Fliege machte, wenn sie gegen die Fensterscheibe klatschte. Ada war gedemütigt. Sie blickte auf den Leichnam. Sie konnte sich nicht rühren. Dann schien ihr plötzlich bewusst zu werden, dass dies ihr Schlafzimmer war, in dem ihr Mann lag, tot oder nicht, und sie ging einfach ums Bett herum. Als sie zum Fenster gelangte, hob sie eine Hand und drückte das Rollo flach. Das Brummen verstummte. Ada, die Hausfrau, mit einem scheußlichen Fleck auf ihrem Rollo. Jetzt standen wir Kinder allein vor Charlies kahlem Kopf, nackt auch im Tod.
Man möchte meinen, der Tod bringe eine gewisse Leichtigkeit mit sich – bisweilen fühlt unser Leben sich so schwer an -, doch die Kuhle, die Charlies Kopf auf dem Kissen verursachte, war tief und lebendig.
Ich erinnere mich, wie er sich im Phoenix Park einmal hingelegt hatte, sein Kopf wie ein Felsen im Gras. Und ich erinnere mich an meine Hand in seinem Mund – die ganze Hand – und wie er lachend auf ihr herumkaute. Ich muss sehr klein gewesen sein, denn meine Hand verschwand vollständig in diesem riesigen Gesicht und, wie es schien, in dem hochbrandenden Chaos seiner feuchten Zunge und den sanften Gruben und Höckern seiner Backenzähne.
Der Schädel ist der Knochen, der der Luft am nächsten ist. Als ich mir die Haut auf Charlies gewölbtem Kopf beschaute, wurde mir das klar. Sie war von blutleerer Durchsichtigkeit, und die Sonnenbräune befand sich nur auf der Oberfläche, eine hauchdünne Lasur. Ada war vom Fenster zurückgekommen und drängte uns, es zu betrachten, es zu bezeugen, es vielleicht sogar zu berühren, dieses vorübergehend heilige Ding, unseren toten Großvater. Und ich finde, dieser Moment ist erstaunlich. Dieser Moment der Betrachtung. Wenn sie uns verlassen haben, aber noch nicht fort sind. Wenn man sich nicht ganz sicher ist, was genau man da sieht.
So betrachtete ich ihn also – oder es. Und alles war unverfänglich und nicht weiter überraschend, bis auf den Schnurrbart. Als Charlie noch am Leben war, hatte er den schönsten, buschigsten weißen Schnurrbart gehabt, er duftete nach Zitrone und war an den Spitzen leicht nach oben gebogen. Mein Großvater war der einzige Mann, den ich kannte, der mitten im Gesicht ein Spielzeug hatte. Sein Schnurrbart bewegte sich, lenkte ab und blendete. Die reinste Mundfertigkeit. Und jetzt rührte er sich nicht und verbarg gar nichts.
Es steckte kein Trick dahinter.
Das war es auch, was mich zum Weinen brachte – darauf zu warten, dass Charlies Schnurrbart sich bewegte, und festzustellen, dass er sich nicht bewegte. Es steckte also doch kein Trick dahinter. Schräg hinter uns flüsterte Ada: »Sagt jetzt Auf Wiedersehen«, und Liam, der fast ein Jahr älter war als ich, tat einen Schritt nach vorn, dann hielt er inne, weil er nicht wusste, was er zu tun hatte.
»Scht«, sagte Ada zu mir. »Hör auf zu weinen.«
Ich frage mich, ob man das Blut hatte herausfließen lassen. Ich meine, war er einbalsamiert worden, bevor er aufgebahrt wurde, war das damals Brauch? Das Blut, das sich in seinen Schultern und in seinen Hinterbacken sammelte, das Blut, das ihm, der Schwerkraft folgend, in den Hinterkopf gesunken und drauf und dran war, durch die Matratze zu sickern, das Blut, das jetzt in ihm gerann oder sich verdickte, während seine Vorderseite (das können Sie mir glauben) unmerklich heller wurde und wir dastanden und ihn von uns gehen ließen, das Blut, das so schwer und klebrig und unrecht war – ich frage mich, ob es noch in ihm war, denn es ist wie mein eigenes Blut, zumindest wie ein Viertel meines Blutes. Würde ich mich jetzt, in diesem Moment, schneiden, sähe ich es ungehindert herausfließen.
Es ist komisch, aber ich habe mich mit Charlie nie verwandt gefühlt, obwohl er mein Großvater war. Er war ein Mensch anderer Art. Er tanzte mit Ada in der Küche. Er hatte keine Arbeit, der man einen Namen geben konnte. Er war nicht immer zu Hause.
Keiner von den Hegartys hat seine hundebraunen Augen
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