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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Er war der erste Leichnam, den ich gesehen habe, riesig und unbeweglich unter Adas rosarotem Federbett. Deswegen läuft es ja auch fast auf Blasphemie hinaus, über ihre Hochzeitsnacht in ebendiesem Bett zu schreiben – aber Blasphemie scheint hier mein Geschäft zu sein.
    Ich würde mich so gern daran erinnern, wie er starb – ob mit einem Geräusch in der Nacht oder unter längerem Schweigen mitten am Nachmittag. Es muss geschehen sein, als wir dort untergebracht waren. Vielleicht war es ja sogar der Grund dafür, dass wir wieder nach Hause mussten. Aber solche Details und solche Daten sind, wie es scheint, zu grausig, als dass ein Kind sie aufnehmen könnte, denn mein Gedächtnis hat sie ausgeblendet – und zwar vollständig. Alles, woran ich mich erinnere, ist der Nachmittag, an dem wir ins Zimmer hinaufgeführt wurden und uns alle Mühe gaben, nicht loszuprusten.
    Das muss im Februar 1968 gewesen sein. Ich war noch acht, Liam schon neun, und wir gingen hinauf, um Charlie Auf Wiedersehen zu sagen. Ich glaube, selbst mit acht Jahren wusste ich bereits, dass man Auf Wiedersehen sagen kann, solange man will, aber wenn jemand tot ist, wird er nichts erwidern, deshalb musste Liam mich am Arm packen und an den Nachbarn vorbeizerren, die auf der Treppe den Rosenkranz beteten. In meiner Erinnerung waren sie alle in Umhängetücher gehüllt; Adas Rücken, eingeschnürt in schwarzen Taft, stieg vor uns die Treppe hinauf. Aber es war das Jahr 1968: Es werden also gemusterte Kopftücher gewesen sein und Mäntel mit großen Knöpfen, die nach Regen rochen. Ada dürfte ihr marineblaues Polyesterkleid mit weißer Paspel getragen haben, das immer zu allen wichtigen Gelegenheiten hervorgeholt wurde, dazu eine passende marineblaue Bolerojacke und einen von diesen Hüten, die aussehen wie eine Blase aus Filzstoff, die auf einer Seite eingebeult ist.
    Die Füße der Nachbarinnen hingen überraschend weit über die Treppenstufen hinaus, auf denen sie knieten: Ihre Schuhe wippten in der Luft, und die Leiter aus Schienbeinen in Stützstrümpfen hatte etwas Holpriges und Grundverkehrtes, irgendwie über Kreuz mit der Treppe, die wir zu erklimmen suchten.
    Auf dem Treppenabsatz betete eine Frau sehr laut. Sie sah mich mit Liam kichern und verdrehte traurig die Augen, als gäbe es Dinge jenseits jeder Rüge. Daran erinnere ich mich genau: an das Zeitlupengefühl, dass man nichts als Flausen im Kopf hat und nicht imstande ist, sein Verhalten zu ändern. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich das Schlafzimmer meiner Großeltern nicht betreten wollte. Auf gar keinen Fall.
    Die zweite Treppe war von weiteren Knienden versperrt, und dann sah ich durch die offene Tür das Fußende des Bettes und den reglosen, ungleichmäßigen Doppelhügelvon Charlies Füßen. Ich erinnere mich noch, wie kerzengerade seine Beine waren, die durch den immer größer werdenden Türrahmen sichtbar wurden, die entsetzlich schmalen Spitzen seiner Knie, dann die gnädige Wölbung des Federbetts über dem Anstieg seines unglaublichen Bauches. Seine Hände, gefaltet und von einem Rosenkranz umschlungen, ruhten selbstzufrieden auf seiner Brust.
    Der Rosenkranz wirkte straff, als grüben sich die Perlen in seine Haut. Diese garstigen kleinen Formalitäten am Ende, eine Art Rache an ihm, dafür, dass er tot war.
    Ada sah sich prüfend nach uns um und machte dann Platz, damit wir einen besseren Blick hatten. Es war ein Blick, den ich nicht haben wollte.
    Charlie liebte es, zu verschwinden.
    »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« Man wusste nie, wohin er ging. Er ging unter einem Schwall von Erklärungen davon, die überhaupt nichts erklärten. So hatte Ada zu guter Letzt doch recht behalten – er war jemand, der einem auf die Nerven ging. Man konnte es an der Art sehen, wie sie auf ihn zuzuckte, als wolle sie ihm ein paar Schuppen vom Revers wischen. Und tatsächlich, da war etwas – eine Fliege, die an seinem Hals entlangkrabbelte. Ich dachte schon, sie sei unter seinem Kragen hervorgekrochen, und der Gedanke an Maden setzte mir sehr zu – eigentlich von jenem Tag an. Jedenfalls verging mir mein dämliches Grinsen, es war, als würde Ada nach mir und nicht nach der Fliege schlagen.
    Sie beobachtete, wie die Fliege aufflog und gegen das Rollo prallte, einmal, zweimal. Dann kehrte sie zum Bett zurück. Ich stand hinter Ada, spürte die stille, rohe Wut, als sie zusah, wie die Fliege kreiste, davonflitzte, wieder zurückkehrte und sich abermals auf Charlies totem

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