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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Kurzen riechen, den er getrunken hatte, bevor er zur Krankenhaustür hereinkam, den Wein, den er zum Mittagessen getrunken hatte, und das Bier vom Vorabend. Aber auch sein Metabolismus hatte sich verändert, da war etwas Süßes in seinem Blut und in seinem Atem, das ich nicht wiedererkannte. In jenen letzten Jahren aß er nicht mehr viel, sein Körper folgte bereits dem Takt des Alkohols. Und jetzt, da ich im Zug nach Brighton sitze, frage ich mich, ob er wohl Diabetes hatte, ob es das war, was mit ihm nicht stimmte. Plötzlich denke ich, wenn er einen Bluttest machen würde, könnten wir etwas dagegen unternehmen, denn letzten Endes ist vielleicht gar nicht der Alkohol das Problem.
    Dann wird mir klar, dass er tot ist.
    Und natürlich war sein Trinken eine existenzielle Aussage – wie konnte ich das nur vergessen? Ganz gewiss war es nichts Metabolisches . Es gab keine Ursache.
    War er besoffen, als er starb? Vermutlich. Und welche Gezeiten rollen jetzt durch seine Adern? Blut, Meerwasser, Whiskey? Wenn er Whiskey getrunken hatte, war er wie ein Wahnsinniger. Vermutlich bildete er sich ein, bis zur verdammten französischen Küste schwimmen zu können.
    Im Zug nach Brighton schließe ich meine Augen vor dem warmen Sonnenlicht und schlummere neben dem schlummernden Fremden ein.

10
    Hier liegen Ada und Charlie im Bett, ein Jahr später. Charlie glatt wie ein Seehund mit seinem langen, rundlichen Bauch; seine schlaffen Genitalien auf dem dicken weißen Oberschenkel leuchten rosa. Es ist Sonntagmorgen, und jeder zufällige Luftzug, jede Bewegung von Ada unter dem Federbett kann ihn aufreizen, bis ein Winkel erreicht ist – sagen wir, von fünfzig Grad -, der ihm ebenso hart wie zärtlich erscheint. Er denkt eine Weile darüber nach – vierzig Grad könnten unbeholfen wirken, ein geringerer Grad stümperhaft und schüchtern -, und dann muss er die Frage jemandem anvertrauen, die Frage des richtigen Winkels. Er taucht wieder unters Bettzeug, hinab zu Adas dünnen Schenkeln, und sie lacht und hebt die Knie. In den vergangenen paar Stunden haben sie das so oft getan, dass es schwierig ist, den Unterschied zwischen draußen und drinnen auszumachen. Ebenso den Unterschied zwischen Bettzeug und Zimmerluft, zwischen ihren Kleidern und ihren Händen: Alles scheint die beiden zu streicheln. Sie sind ein einziges Nervenbündel, an den Enden ausgefranst. Sie verschleißen einander. Beide sind verblüfft darüber, wie dünn ihre Haut ist, wie nahe sie einander sein können, Blut an Blut, sodass – nachher – das Ticken des einen im anderen ein Scherz sein könnte oder ein Pulsschlag – ein fremder Herzschlag in den eigenen Adern.
    Natürlich hat Charlie, mit dreiunddreißig, genug Verstand, um nicht zu oft in ihr zu kommen, er versucht es zu vermeiden (obwohl er es manchmal, das ist wahr, ganz und gar nicht vermeiden kann), und so hievt er sich im letzten Moment aus ihr heraus und sackt in sich zusammen wie ein Ertrinkender, Meerwasser auf den Kai ergießend. Und Ada ist nicht nur von der Liebe wund, sondern auch von dem Essig, den sie für ihre spezielle Kappe benutzt; ein Geschenk von Charlie – so unerhört listig – nach der Verlobung. Sie sind Liebende. Obwohl sie miteinander verheiratet sind, sind sie Liebende. Von Kindern ist nicht die Rede: Es passiert nichts im Dunkeln. Die Zeit der Werbung war eine stürmische Angelegenheit, die Verlobung, so schien es, nur ein Vorwand, um das Gefühl der Süße zu verlängern, sodass sie, als sie endlich in einem rechtmäßigen Ehebett lagen, völlig erschöpft waren von allem und ihrer Hochzeitsnacht wie einem endgültigen Schiffbruch entgegensahen. Ada zog sich auf der Bettkante aus wie eine Frau, die in die Badewanne steigt, Charlie blinzelte unter der Lampe, um seine Uhr aufzuziehen. Und nach einem schnellen und scheußlichen Geschlechtsakt – Ada hatte die Augen weit aufgerissen – wurde ihnen klar, dass sie offenbar doch noch alles lernen mussten.
    »Mach dir keine Sorgen.« Es scheint, als habe Charlie seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, nichts anderes gesagt. »Mach dir keine Sorgen, dir wird schon nichts passieren.«
    Ada wusste nicht, warum sie ihm vertraute, aber sie vertraute ihm. Und sie tat gut daran. Das allein war schon ein Triumph für sie, für die dünne, praktische Ada mit ihrem wachsamen Blick. Sie hatte ihm von Anfang an vertraut und hörte nie auf, ihm zu vertrauen, selbst dann nicht, als er ihr später die Gerichtsvollzieher ins Haus

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