Das Familientreffen
geerbt oder seine lange, schmale Nase – obwohl, alle seine Enkelsöhne bekamen mit der Zeit tatsächlich eine Glatze. Doch das konnte Liam nicht vorhersehen, als er dastand und darauf wartete, das Richtige zu tun, sobald er wüsste, was das Richtige wäre. Er konnte nicht vorhersehen, dass er kahl wie ein Straußensteiß sterben würde, obwohl ich glaube, in dem Moment, als er sich vorbeugte, um des armen Charlies tote Hand zu berühren, wussten wir beide, dass Liam sterben würde.
Er war schon auf dem Weg dorthin.
Wenn Sie mich fragen, wie mein Bruder als Toter aussieht, kann ich nur sagen: wie die perspektivisch verkürzte Gestalt des Christus von Mantegna in einem Schlafanzug mit Paisley-Muster. Und vielleicht ist das eine allgemeine Wahrheit über Tote, vielleicht geschieht das einfach, wenn jemand mit den Füßen zur Tür auf einem hohen Tisch in der Leichenhalle liegt. Daran erkannte ich, dass Liam tot war, als ich ihn endlich in Brighton sah, an der Tatsache, dass er zu weit vom Fußboden entfernt war und dass das Ding, auf dem er lag, zu hart und zu flach war, denn die Toten haben es nicht mal mehr unbequem – selbst wenn wir alles dafür tun, um es ihnen möglichst unbequem zu machen. Ich glaube nicht, dass ich seinen Kopf betrachtet oder über seine Kahlheit oder sonst etwas nachgedacht habe. Und ich war froh, dass ich einige Übung in dieser ganzen Angelegenheit – der »Leichenbeschau« – hatte, denn auch wenn ich Charlie geliebt habe, handelte es sich doch um die mühelose, eilfertige Liebe eines Kindes, das stets bereit ist, einen anderen zu lieben.
Aber, ob tot oder lebendig, man verbringt seine Zeit nicht damit, den eigenen Bruder zu untersuchen, Körperbau, Körperteile oder Beschaffenheit der Haut. Deshalb kann ich mich an Liam nicht im Detail erinnern. Ich weiß nur, dass er tot völlig anders aussah, während Charlie genau wie sonst ausgesehen hatte. Und während ich mich über den albernen abgewetzten Schlafanzug mit Paisley-Muster wunderte, wurde mir bewusst, aus welchem Grund wir im Alter von acht und neun Jahren in Broadstone die Treppe hinaufgezerrt worden waren – weil Ada diesen Tag hatte kommen sehen. Sie hatte es die ganze Zeit über gewusst. Sie wollte, dass wir vorbereitet wären.
Oder vielleicht war ihre Trauer so tief, dass sie jeden mit hineinziehen musste, selbst uns Kinder. Vielleicht wollte sie, dass die ganze Welt Zeuge wurde und sich entsetzte.
Ich war nicht entsetzt, ich fühlte mich nur einsam. Nicht weil Charlie von uns gegangen war – ich machte mir nichts aus Charlie, ich hasste Charlie, ich hoffte, dass es unter seinem Anzug von Maden wimmelte. Sondern weil ich nicht in diesem Zimmer sein wollte und sich niemand darum scherte. Meine Gefühle zählten nicht – nicht nur bei diesem Anlass, sondern in der ganzen Frage des Lebendigseins.
Auf der Treppe wurde weiter der Rosenkranz heruntergehaspelt, Liam trat zurück, und ich stand da und weigerte mich, auch nur einen Schritt zu tun. Liams Hand auf meinem Unterarm, bereits bleifarben vor Verwesung. Hinter meinen Schultern flüsterte Ada mir zu, ich solle nach vorn gehen.
Ich tat es nicht.
Meine Großmutter hatte keine Geduld. Sie ging an meiner statt und legte ihre Hand auf den Leichnam, einmal flüchtig aufs Handgelenk und dann – wie aus einem Impuls heraus – vom Ohr bis zum Kinn, entlang der Kinnlinie.
Es dauerte eine Weile, bis wir merkten, dass sie in dieser Haltung erstarrt war. Und noch mal eine Weile, bis jemand zu ihr ging, ihre Handfläche von der kalten Wange fortzog und dabei über die Schulter blickte, als wolle er sagen: »Das reicht jetzt.«
Als sei alles unsere Schuld – die Peinlichkeit toten Fleisches und der Liebe, die noch immer in Adas Körper atmete, einer Liebe, die nicht wusste, wohin mit sich.
»Das reicht.«
Mr Nugent. Natürlich.
Und jetzt, da ich mich an Mr Nugents Gegenwart zum Ende hin erinnere, fällt mir ein, dass er sich schon die ganze Zeit im Zimmer aufgehalten hatte, neben der Seitenwand des Schrankes, sodass die Fliege, als sie von Charlies Hals aufstieg, genau an ihm vorüberflog, ehe sie in einem Bogen auf das Licht des Fensters und das Rollo zusteuerte. Als wir hereinkamen, hatte er sich, die Ellbogen auf den Knien, vorgebeugt, seine Rosenkranzperlen baumelten bis auf den Fußboden herab, und das Mahagoni hinter ihm war fast so dunkel wie sein schwarzer Anzug.
Männern, die beten, habe ich nie vertraut. Frauen bleibt natürlich keine Wahl – aber woran denken
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