Das Familientreffen
Männer, wenn sie knien? Ich glaube nicht, dass es in ihrer Natur liegt, zu beten: Sie sind zu stolz.
Aber da war er und seufzte sich durch seine Ave-Marias, als wir zur Tür hereinmarschierten: ich, von der man erwartete, dass ich die Sache in die Hand nehmen würde, mein Bruder, schlaksig und ungeschlacht in seinem grauen Schulpullover, und Kitty, die uns folgte. Und jetzt muss ich natürlich Kitty einbeziehen, meine kleine Schwester, die sich hinter uns die Treppe hinaufschleppte, denn auch sie muss dabei gewesen sein. Kitty ging an diese Aufgabe heran wie an ihre Erstkommunion – mit gesenktem und fromm zur Seite geneigtem Kopf. Hat sie ein Gänseblümchen auf Charlies Brust gelegt, eine kindliche Butterblume auf den Kissenbezug? Nein. In meiner Erinnerung trat Kitty vor, sagte: »Auf Wiedersehen«, drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie war sechs. Sie liebte ihr Publikum. Ich muss es wissen, denn ich musste ihr jeden Abend die Haare in Stofffetzen aufdrehen, damit ihre Ringellöckchen schön fest blieben.
Nugent war die ganze Zeit dabei: bei Liams Tapferkeit, bei Kittys niedlicher Frömmigkeit und bei der riesigen Blase Selbstsucht, die in meiner Brust aufstieg und zerplatzte. Dieses armselige laute Peng!, das mir verriet, dass ich am Leben war.
Daran erinnere ich mich noch gut. Ich erinnere mich an Kittys Stofffetzen, aber ich kann beim besten Willen nicht die Erinnerung an meine Schwester umkehren und in ihr sechs Jahre altes Gesicht blicken. Ich kann mich beim besten Willen nicht an Liams Gesicht erinnern, obwohl ich nie seine neun Jahre alte Hand vergessen werde, die Charlies tote Hand berührte – Liams Hand rot gefleckt, während Charlies durchsichtig war, da sein Körper bereits vergessen hatte, dass in dem kalten Haus Winter herrschte. Es gibt Fotos. Eine Spur des Lächelns meines Bruders, wenn ich vor dem Spiegel stehe, einen Tonfall, der mir manchmal eigen ist. Ich glaube nicht, dass wir uns an die Menschen in unserer Familie wirklich erinnern. Vielmehr leben wir in ihnen.
Die einzigen Dinge, deren ich gewiss bin, sind die Dinge, die ich nie gesehen habe, meine kleinen Blasphemien: Ada und Charlie in ihrem Ehebett, ihr Schambein wie die Brust eines unterernährten Hühnchens unter seiner großen Hand oder das traurige Gewicht seiner Rute, als Ada unter seinen langen Bauch greift, um ihn tiefer in sich hineinzuziehen. Die Sonne auf den geblümten Vorhängen.
Glück.
11
An einem Tag, bevor Liam starb, öffnete ich den Mädchen die Autotür, und als sie aufschwang, sah ich im Wagenfenster mein Spiegelbild. Dann war es verschwunden, und während die Kinder ausstiegen, blickte ich in die dunkle Höhle des Wagens oder bückte mich wieder hinein, um irgendwelchen pinkfarbenen Plastikkram aufzuheben. Als ich die Wagentür zuschlug, schoss das Spiegelbild zurück. Aus kontrastreichen Wolken brach die Sonne, der Himmel in der Fensterschreibe war von einem wunderbar dichten Blau, und im Vorüberhuschen malte sich in meinem dunklen Gesicht die Spur eines Lächelns. Und ich weiß noch, wie ich dachte: »Ich bin also glücklich. Schön zu wissen.«
Ich bin glücklich.
Rebecca ist jetzt acht, sie sieht aus wie ich. Emily ist sechs, sie hat schwarze Haare und jene eisblauen Augen, die man an der Atlantikküste findet – Hegarty-Augen, nur noch intensiver -, und ich denke, wenn wir Emilys Zähne richten und wenn Rebecca aufhört, so verdreht zu sein, und lernt, sich gerade zu halten, dann haben die beiden eine gute Chance, eines Tages bildhübsch zu werden.
Meine Kinder sind noch nie allein die Straße hinuntergegangen. Sie haben sich noch nie ein Bett geteilt. Sie sind ein anderer Menschenschlag. Sie scheinen wie Pflanzen zu wachsen, aus Zweigen und Blüten gemacht zu sein und nicht aus Fleisch.
Und deshalb strengen ihre Eltern sie an. Als wir das letzte Mal in den Ferien waren, gab es Streit wegen der Fahrtrichtung, und mittendrin blickte ich in den Rückspiegel und sah, wie Rebecca geradeaus starrte. Ihr Mund war zusammengekniffen, und in einer schrecklichen Vorahnung sah ich, was an ihrem Gesicht sich falsch entwickeln würde, sei es schnell oder langsam, etwas, das ihr den Liebreiz rauben würde, noch ehe sie erwachsen wäre.
Ich dachte: Ich muss dafür sorgen, dass sie glücklich ist. Ich muss ihren Vater lieben und dafür sorgen, dass sie glücklich ist, oder es ist um sie geschehen, und sie wird zu einem dieser Menschen werden, denen man täglich auf der Straße begegnet.
»Wie hast du
Weitere Kostenlose Bücher