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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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am Rand der Menschenmenge und sah mit melancholischer Teilnahmslosigkeit zu, wie der Sarg meiner Großmutter hinabgesenkt wurde. Die Ada der letzten Jahre war eine alte Dame gewesen, die die ihr zugeteilte Lebensspanne ausgelebt hatte. Sie war nett, natürlich – schließlich war sie meine Oma -, aber sie war nicht die Frau, die mich um vier Uhr morgens mit der Antwort auf die Frage aller Fragen, das Hegarty-Rätsel, weckte: warum wir alle so abgefuckt und alle so hier sind.
    Lamb Nugent betrachtet Ada Merriman über den Teppich im Belvedere Hotel hinweg, sie erwidert seinen Blick, und der Rest, wie man so sagt, ist Geschichte.
    Sechsundfünfzig Jahre später tranken wir Tee und aßen Sandwiches, gefolgt von selbstzufriedenen Gesprächen in Adas überraschend kleinem Haus in Broadstone – die ausgedehnte zweite Generation, die beginnende dritte, meine Mutter, die geschwächt in der guten Stube thronte, ihre Schwester, die sich in der Küche über alles beschwerte, worauf ihr Blick fiel. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das, was die Gesichter von Menschen ins Ungute verkehrt, bei ihnen gründlichst durchgesetzt; Roses Mund hatte sich zu einer Kerbe der Missbilligung verzogen, der Blick meiner Mutter war längst wässrig und verschwommen. Mit den Kindern anderer Leute mochte Ada gut zurechtgekommen sein, aber zu ihren eigenen war sie offenbar schrecklich gewesen. Aber »Ach, sie war furchtbar nett« sagten sie, die Nachbarinnen und die paar verbliebenen Freunde: zwei Männer – heute ist mir klar, dass sie schwul waren -, die sich ihr gegenüber freundlich verhalten hatten, die Tochter einer verstorbenen Schauspielerin, die früher mal im Fernsehen aufgetreten war. Und hatte ihr nicht Jimmy O’Dea zum Geburtstag immer einen Korb mit Obst geschickt? Und Frank Duff, der eigentliche Kopf der Legion Mariens, hatte Weihnachten immer bei ihr vorbeigeschaut. Ja, das hatte er. Ich kann mich noch an ihn erinnern, es muss in dem Jahr gewesen sein, als wir bei ihr wohnten, da war er mit einer Schachtel Pralinen in einem Einkaufsnetz zu ihr gekommen wie ein kleiner, altjüngferlicher Weihnachtsmann. Er überreichte sie Ada und drückte ihren Unterarm, als hätten sie beide schon zu lange gelebt, um sich noch irgendetwas zu sagen zu haben.
    Jener Weihnachtsvormittag war genauso rein und frisch, wie er es immer ist – meine Erinnerung lässt nicht zu, dass es regnete. Doch ebenso wenig lässt sie zu, dass wir uns auf den Heimweg machten zum Griffith Way, denn dies war das Jahr, in dem wir zu Ada ausgelagert worden waren, ich, Liam und Kitty, und unsere Mutter bekamen wir nicht zu sehen, nicht einmal zu Weihnachten, obwohl irgendwann am Nachmittag mein Vater mit einer blasierten Bea vorbeikam.
    »Mammy ist immer noch nicht die Alte«, sagte sie und wirkte in ihrem neuen Pullunder, einem Mohair-Ding mit himbeerroten und blauen Streifen, noch frömmer als sonst. Und am Abend kam Mr Nugent mit einer Schachtel Geleefrüchte vorbei, oder besser mit einer Schachtel Gelee in orangenen, gelben und grünen Halbkreisen, das sich als Früchte ausgab.
    In dem Jahr, als Ada starb, standen mir diese Dinge noch viel zu nahe, als dass ich mich um sie gesorgt hätte. Die Vergangenheit war mir langweilig und Adas Tod überaus lästig, wie wir so die Sandwiches herumreichten und unter der verbrauchten Luft in den kleinen Zimmern litten. Und dann dieses »Ach, sie war furchtbar nett, eure Granny«, was natürlich stimmte. Was nur allzu sehr stimmte. Und sie nippten an ihrem leichten Sherry oder lehnten ihn dankend ab, ließen die Küche in einem Chaos von Butterbrotpapier zurück und waren verschwunden, und meine Mutter saß noch immer in ihrem Sessel in der guten Stube, mein treu liebender Vater stand leicht gebückt neben ihr, und Tante Rosie war im Obergeschoss und paffte eine letzte Kippe aus dem Badezimmerfenster, weil sie offiziell immer noch nicht rauchte, obwohl ihre Mutter viel zu tot war, um sich jetzt noch darum zu kümmern – außerdem hatte sie es schon immer gewusst.
    Es mag etwas taktlos erscheinen, doch genau in jenem Moment wurden wir von unserem Vater mit der Anweisung »Nehmt euch, was ihr mögt« in Adas Schlafzimmer hinaufgeschickt. Und die Hegarty-Mädchen genossen das leiseste Gezänk, auf das sie sich je eingelassen hatten, wir hassten einander in wutersticktem Geflüster. Ich ergatterte eine Kette mit Jettperlen, die schwarzen Straußenfedern von Adas Kaminsims und eine kleine Porzellanhand mit einer Spalte in der Mitte, in

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