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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Vorstellungen begonnen haben, dann war das vor Adas Spülstein, in Broadstone.
    Dort gab es einen Topfreiniger aus rotem Plastikgeflecht fürs Grobe, ein dickes grünes Tuch für die feineren Arbeiten und einen Schwamm zum Nachspülen. Es gab ein weißes Baumwolltuch, mit dem man die Wachstuchtischdecke abwischte und das niemals zum Geschirrspülen benutzt werden durfte. Es gab einen Wischlappen für den Fußboden, der unter keinen Umständen auf die Wachstuchtischdecke gelegt werden durfte. Das alles musste ich wissen, denn ich war das älteste Mädchen im Haus. Es war meine Aufgabe, den Dienst am Spülstein zu übernehmen und mich um das Geschirr zu kümmern.
    Eigentlich hatte ich nichts dagegen. Ich war gern in ihrer Nähe.
    Aber ich ließ meinen Gedanken freien Lauf. Wie ich dort am Keramikspülstein stand und auf den Garten und die grüne Tür zur Garage dahinter blickte, stellte ich mir Ada mit ihrem Koffer als Neun- oder Zehnjährige vor oder wie alt sie gewesen sein mochte, als ihre Mutter starb und sie in der großen, weiten Welt allein zurechtkommen musste. Ich versuchte, mir einen Vater für sie vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Ich malte mir aus, wie meine eigene Mutter starb, zu Hause im Griffith Way – tatsächlich immer wieder von Neuem -, Mammy starb, und mein Vater weinte und starb dann auch, und später, nachdem sie eingepflanzt waren, malte ich mir großartige Abenteuer für mich und Liam aus, nun, da auch wir Waisenkinder waren.
    All dies, während Ada mich die Teller mit Wasser direkt aus dem Kessel abspülen hieß und Charlie mir zuzwinkerte, wenn sie uns den Rücken kehrte.
    Eines Morgens rief sie mich in ihr Zimmer. Sie wollte ausgehen, wohin auch immer, und kleidete sich gerade an. An einem Finger trug sie, wie ich mich erinnere, einen rosa Fingerling, der mittels einer Gummischlaufe an ihrem Handgelenk befestigt war. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass sie sich an der Nähmaschine verletzt hatte, aber eigentlich kommt mir das zu schauerlich vor, um wahr zu sein. Jedenfalls habe ich keine Erinnerung an durchstochene Fingernägel, Schreie oder Tumult in der kleinen Abstellkammer. (Und die Tatsache, dass ich dieses Bild jetzt heraufbeschwören kann – die davoneilende Nadel, die quälende Befreiung der Frau aus der Nähmaschine -, beweist mir, dass Ada recht hatte. Das geistige Auge hat etwas Unmoralisches.)
    Wie auch immer, sie hatte einen Schutzverband am Finger, als ich nach oben ins Zimmer gerufen wurde, und sie sagte: »Komm her«, blickte über die Schulter und schürzte hinten ein wenig ihren Rock. »Mach das mal fest.« Und sie verdrehte ihr Bein, sodass ich es von der Seite betrachten konnte.
    Ihr Oberschenkel war überraschend dünn. Er wies eine tintenblaue Landkarte geplatzter Adern auf, ein ganzes Netz davon über ihrem Strumpf, der am oberen Ende zu einer dicken orangefarbenen Borte gefaltet war. Von einer Stelle, die ich nicht sehen konnte und auch nicht sehen wollte, baumelten an einem ziehharmonikaförmigen Bändchen kleine weiße Ösen herab, und es dauerte eine Ewigkeit, bis mir klar wurde, worum sie mich bat. Ich sollte mich zu ihrem gotisch wirkenden Korsett vorbeugen und es an den Strümpfen befestigen, die darunter warteten. Ich erinnere mich an den sanften Druck der Gumminoppen auf Nylon, das nicht still halten wollte, an die Kühle ihres Beines und den säuerlichen Geruch ihrer Wohlanständigkeit. Und ich stellte mir vor, dass jeder Mann, der zum Haus kam, um diese geheimen Öffnungen zwischen ihren Kleidungsstücken wusste, um ihre erstaunliche Zweibeinigkeit und die enge Wölbung ihres Korsetts, das weiter unten der Luft ausgesetzt war.
    Und vielleicht taten sie das ja wirklich.
    Wenn also Frank Duff zur Tür kam, glaubte ich, dass auch er hinter ihr her sei.
    »Nur eine Kleinigkeit, Ada. Nein, ich bestehe darauf! Wirklich nur eine Kleinigkeit.«
    Jener Frank Duff, der der eigentliche Kopf der Legion Mariens war, einer religiösen Organisation, die sich damals, 1967, dem Nichts und dem Zubereiten von Tee verschrieben hatte.
    »Gottes Segen. Und deiner ganzen Brut frohe Weihnachten.« Und er strich mir zärtlich über die Wange, fasste mich leicht am Kinn und ließ es dann wieder los.
    Später kam Mr Nugent mit der Schachtel Geleefrüchte. Er ignorierte Ada und unterhielt sich stattdessen mit den Kindern. Es war Weihnachten. Es war unser Tag.
    Tatsächlich hatte Frank Duff seine frühen Jahre damit verbracht, Prostituierte aus den Straßen Dublins zu

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