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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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vorgetragen, sodass mir – obwohl alles, was er da von sich gab, schrecklich war – diese Nächte, in denen wir bis zum Morgengrauen redeten, als glückliche Nächte in Erinnerung sind. Damals muss er kleiner gewesen sein als ich, denn er rollte stets in die Kuhle, die mein Körper in die Matratze gelegen hatte, und um ihn wegzuschieben, hätte ich aufwachen müssen.
    Worüber wir redeten? Ich wünschte, ich wüsste es. Als Teenager schrieben wir uns jedes Mal, wenn wir voneinander getrennt waren, schwungvolle und »übermütige« Briefe, wie in dem Sommer, als er in die Gaeltacht fuhr, oder damals, als ich mit einem Schüleraustausch nach Frankreich abreiste.
    »Unterdessen«, schrieb er mir, als er vierzehn war, aus Gweedore, »schläft uns der Hintern ein, weil wir dauernd am Strand sitzen und keinen Wodka trinken, oder bhodhca , wie sie ihn hier nennen. Billy Tobin ist nach Hause geschickt worden, weil er Englisch gesprochen hat, deshalb haben Michael und ich eine Methode entwickelt, Englisch so auszusprechen, als wäre es in Wahrheit Irisch, was Riesenspaß macht und nicht sehr verständlich ist. Iubhsaid try it iurselbh some time .«
    Er war derjenige, der am meisten redete, aber das störte mich nicht. Ich wünschte, ich könnte mich genauer daran erinnern, was er gesagt hat, aber meine Erinnerungen an Liam sind nicht mit Gesprächen verbunden. Nie haben wir in einem Haus, einem Restaurant oder einer Bar auf ordentlichen Stühlen einander gegenübergesessen. Wir unterhielten uns wie Bruder und Schwester, schauten dabei aber woanders hin, oder saßen auf dem Fußboden und rauchten, lehnten uns mit dem Rücken an dieselbe Wand und plauderten beiläufig miteinander, während wir die Passanten beobachteten und über andere Dinge nachdachten. Oft führten wir im Dunkeln Gespräche, in den verschiedensten Positionen: im Doppelbett bei Ada Seite an Seite, zu Hause ein-, zweimal Kopf an Fuß oder in der Absteige in Stoke Newington, wo zwei Betten mit den Kopfenden zur selben Zimmerecke standen, im rechten Winkel zueinander. Ich sah das Glühen um seinen Mund, wenn seine Zigarette knisterte – dann flog die rote Spitze in hohem Bogen davon, als würde sie weggeworfen. Mir wurde leicht schlecht davon, dauernd wollte ich danach schnappen und hielt doch gleichzeitig still. Ich fürchte mich sehr vor Feuer. Es war Sommer, und manchmal redeten wir noch, wenn bereits die Sonne aufging – aber ich habe keine Ahnung, worum unsere Gespräche sich drehten. Ich stelle ein Wort in den Raum, etwa »Joan Armatrading«, und denke: Über die würden wir uns nie unterhalten. Ich vermute, wir haben über unsere Familie gesprochen, obwohl wir in diesen Angelegenheiten auch eine gewisse Diskretion übten. Und sonst – Quantenmechanik?
    Vielleicht sprachen wir über alles und jedes, und als ich meinen Koffer die Treppen der Absteige in Stoke Newington hinunterschleppte, wusste ich, dass ich nie wieder Gespräche über alles und jedes führen würde.
    Das war mein zweiter Sommer in London. Liam hatte seine Abschlussprüfung nicht bestanden, und ich verdiente mir das Geld für mein letztes Studienjahr als Aushilfe im Elephant & Castle. Er hatte die Bleibe selbst gefunden, ein dreistöckiges Haus mit Souterrain, das niemandem zu gehören schien. Das Wohnzimmer verströmte eine heiße Ausdünstung ganz eigener Art, eine Mischung aus PVC, Pisse und Sardinen, die wir schließlich auf die Steckdosen zurückführten, bei denen alles, was man einstöpselte, Funken sprühend durchbrannte. Das weiße Plastik war von schwarzen Rauchspuren verschmiert, und wenn man diese besah und beroch, hinterließ der Teppich Ovale an den Knien. An das Bettzeug, auf dem, Zimmer für Zimmer, jeder Mieter seinen Arme-Leute-Sex hatte, kann ich mich nicht mehr erinnern, hinterher müssen die Körper in malerischer Hingabe auf den Wellen und Falten der ergrauenden Laken gelegen haben. Wir waren jung, daher halte ich es für denkbar, dass wir schön waren, obwohl das armselige Mädchen mit den Netzhandschuhen allen auf die Nerven ging und der Typ aus Australien seine Bräune loswerden, den Mund halten oder ausziehen musste. Jeder der beiden, so wie ich sie mir heute vergegenwärtige, war unglaublich liebenswert: die harten, schmalen Knochen ihrer weißen Schultern, die sie, wenn sie an ihren Gitanes zog, hob und wieder sinken ließ; er in der Küche, nackt bis zur Taille. An seinem Bauchnabel hielt die Mittelfurche seines Oberkörpers kurz inne und stürzte sich dann

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