Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
zu Nugent: »Das war ein schöner Tag, danke.«
    Sie blickt Nugent in die Augen. Sie weiß, was er sieht. Und es schert sie nicht.
    Ich weiß nicht, warum Ada Charlie geheiratet hat, wenn es doch Nugent war, der zu ihr passte. Und obwohl Sie sagen könnten, dass sie Nugent deswegen nicht geheiratet hat, weil sie ihn nicht mochte, so reicht diese Erklärung doch nicht wirklich aus. Nicht immer mögen wir die Menschen, die wir lieben – nicht immer haben wir diese Wahl.
    Und vielleicht war das ihr Fehler. Sie glaubte, wählen zu können. Sie glaubte, jemanden heiraten zu können, den sie mochte, mit ihm glücklich sein und glückliche Kinder haben zu können. Sie begriff nicht, dass jede Wahl verhängnisvoll ist. Für eine Frau wie Ada ist jede Wahl ein Irrtum, und zwar sobald sie getroffen ist.

17
    Eines Tages packte Ada einen Picknickkorb und brachte uns mit dem Zug an die See. Oder vielmehr, sie wickelte ein paar belegte Brote in das Wachspapier der Toastbrottüte und stopfte sie in ihr Einkaufsnetz – einen Moment lang verwandelte sie sich in eine Gestalt aus einer BBC-Sendung, wie sie im langen Kleid einen Feldweg entlangschritt und im Sonnenlicht Mücken und Staubkörner ihr Haar umtanzten. Also lieber nicht BBC. Obwohl dies die allgemeine Stimmung während der Expedition war, zumindest in meiner Erinnerung, trug Ada kein langes Kleid mit Hammelkeulenärmeln, sie trug (wie die Erinnerungen jetzt auf mich einstürmen!) ein mit kleinen violetten Blümchen bedrucktes Kleid – einem Hauskittel sehr ähnlich, wenn die Blümchen nicht auf exotisches Tintenschwarz gedruckt gewesen wären. Kragen und Ärmelaufschläge des Kleides waren mit demselben Blümchenmuster abgesetzt, nur waren die Blümchen hier aquamarinblau, und dies verlieh dem Kleid etwas Vornehmes, auch wenn es nur ein gewöhnliches geblümtes Kleid war, mit einem Abnäher in der Taille, einem recht weiten Rock und einem leichten Glanz auf dem Baumwollstoff, der bei jeder Bewegung raschelte.
    Die ganze Strecke nach Donabate, das am Meer liegt, saßen wir im Zug neben ihr und spielten mit der Lederschlaufe am oberen Fenster oder öffneten die Abteiltür, um die volle Länge des Gangs entlangzublicken, und schoben sie dann wieder zu. Am Hill of Howth vorbei und weiter nach Malahide, dann fuhr der Zug durch die flache sandige Landzunge im Norden der Grafschaft Dublin, die, wie alle Hegartys wussten, gleichbedeutend war mit »Obst- und Gemüseanbau«, so wie Navan gleichbedeutend war mit »Teppichen« und Newbridge mit »Besteck und Seilen«. Wir schauten aus dem Fenster und fragten uns, wie sich »Obst- und Gemüseanbau« wohl ausnehmen würden, wenn wir daran vorbeifuhren. Wir spielten auf den Sitzen und waren, möchte ich vermuten, ganz und gar glücklich.
    Wir waren unterwegs zu einem Ort mit dem Namen St. Ita’s, und danach sollte es ans Meer gehen. Ersterer war ein eigentümliches Reiseziel. Wir hatten eine Schwester namens Ita, die, selbst damals, die Ungeliebteste von uns allen war, wie vielleicht jedes der Mädchen, sobald ihre Brüste zu knospen begannen.
    St. Ita war eine frühmittelalterliche irische Nonne gewesen, die aus Liebe zum Jesuskind um die Gabe des Stillens gebetet hatte – und »die Milch war geflossen«. Insofern war es kein Ort, auf den wir uns an jenem Tag im Zug zubewegten, sondern eine nebelhafte Vorstellung vom »Stillen«. Was immer das für mich mit meinen acht Jahren bedeutet haben mochte: eine Frau, die zärtlich den Mund eines Säuglings bandagierte, oder eine Krankenschwester, die lächelnd wartete – mit etwas Sonderbarem und Lieblichem hinter der Ansteckuhr und dem weißen Baumwollstoff auf ihrer Brust. Es war etwas Weißes, in das wir ratternd hineinfuhren. Und es ist dieses Weiß, an das ich mich erinnere, als wir endlich ankamen, ein verbrannter weißer Himmel, der, in einem letzten sengenden Weiß, auf ein fernes graues Meer stieß.
    Unterdessen saß ich im Waggon neben Adas geblümtem Kleid, zog mir vielleicht eine Schnur mit Plastikperlen durch die gespitzten Lippen und stopfte sie mir dann in den Mund. Höchstens vierzig Minuten kann diese endlose, diese zauberhafte Zugreise gedauert haben. Kitty und ich in verschiedenfarbigen Gingankleidchen, Rosa für sie und Grün für mich, und Liam, wie bei Jungen üblich, in Schattierungen von Marineblau und Grau. Wir schuckeln die Bahnstrecke entlang, hüpfen alle gemeinsam auf den gefederten Sitzen, wie Schauspieler auf der Bühne. Dann, am Bahnhof, ausgestiegen! Der

Weitere Kostenlose Bücher