Das Familientreffen
schlimmeren, und er hatte durchaus nicht jede Menge Sex, Drogen oder tiefschürfende intellektuelle Gespräche. Er war nur der Typ, der immer herumhing, der einfach nicht ging. Er war der Typ, auf den man sich nicht verlassen konnte, der Chaot. »Mick« nannten sie ihn. »Oy, Mick!«, oder auf die sanftere Art der Rastas: »Hallo, Ire!«
Ich unterdessen wollte eine Dusche. Ich wollte ein Mädchen sein. Ich wollte Sex haben, der etwas bedeutete. Ich wollte eine gute Note in meinem Abschlussexamen in Geisteswissenschaften. Es gab da einen Weg, dachte ich – ich glaubte wahrhaftig, einen solchen Weg müsse es geben -, und Liam war von ihm abgekommen, und ich würde nicht hinausgehen, um nach ihm zu suchen, diesmal nicht.
19
Es war nicht das erste Mal, dass ich meinen Bruder zurückgelassen hatte, und es sollte nicht das letzte Mal sein. Später, in den Jahren, als er trank, ließ ich ihn jedes Mal stehen, wenn er auf der Bildfläche erschien. Aber selbst bevor er zur Flasche griff, gab es Momente, da ich einfach die Augen verdrehen und davongehen musste.
Das Problem, das ich mit Liam hatte, war nie eine einzige große Sache. Es waren immer hundert Kleinigkeiten. Er hatte Zigaretten, aber keine Steichhölzer, hatte ich vielleicht Streichhölzer? Ja, aber das Streichholz bricht ab, das Streichholz zündet nicht, er kann diese billigen albanischen Drecksdinger nicht anzünden. Habe ich ein Feuerzeug? Scheiße, er hat die Streichhölzer über den Boden verstreut. Warum habe ich kein Feuerzeug? Er geht ein Feuerzeug suchen und klappert in sämtlichen Küchenschubladen. Er geht hinaus in den Garten und lässt die Hintertür offen. Zwanzig Minuten später kommt er mit einem Feuerzeug, das er auf der Straße gefunden hat, zur Haustür herein – es lag doch tatsächlich direkt vor dem Haus -, nur ist es nass. Mithilfe der Zündflamme schaltet er den Gasofen ein, zündet im Ofen seine Zigarette an und verbrennt sich dabei die Hand, und nachdem er die Hand eine Weile unter den Wasserstrahl gehalten hat, kramt er im Küchenschrank nach einem Backblech und legt das Feuerzeug – ein billiges Plastikfeuerzeug -, legt er das Feuerzeug doch tatsächlich in den Ofen, und als ich ihn anschreie, brüllt er zurück, und es gibt ein Gerangel an der Ofentür. Danach schmollt er eine Stunde lang, weil ich ihm nicht zutraue, ein Feuerzeug im Ofen zu trocknen, ohne das ganze Haus niederzubrennen. Und nach dem Schmollen kommt die Diskussion .
Liam ist gescheit.
Nein, Liam ist tot.
Liam war gescheit, sollte ich sagen.
Wie auch immer. Für jemanden, der die meiste Zeit seines Lebens täppisch dumm war, war mein Bruder sehr gewitzt. Und worin er gewitzt war, das war das Leben anderer Menschen, das waren ihre Schwächen und ihre Hoffnungen, die kleinen Lügen, mit denen sie sich gern selbst etwas vormachten: warum sie morgens aufstehen sollen, und ob überhaupt. Das war Liams große Begabung – die Lüge bloßzustellen.
Der Alkohol machte ihn boshaft, aber auch wenn er nüchtern war, konnte er geradezu riechen, was in einem Raum vor sich ging, ich schwör’s. Nachdem Toms Vater gestorben war, redete Liam von nichts anderem als von Verwesung. Ich sah, wie Tom ihn mit völlig verständnislosem Gesichtsausdruck musterte, während Liam daherschwadronierte, wie lange es heutzutage dauere, bis ein Körper verfaule, denn jeder von uns sei voller E-Nummern und Konservierungsstoffe. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihm überhaupt erzählt hatte, dass mein Schwiegervater im Sterben lag, er hatte es einfach spitzgekriegt. Liam konnte einen schockieren, aber es war schwer zu erklären, wie er es anstellte, dass man sich neben ihm so klein fühlte.
»Was sollte das denn?«, fragte Tom, nachdem Liam gegangen war, und tat so, als habe er kein einziges Wort begriffen – denn Liam verstand sich darauf, dass seine Bemerkungen unter die Haut gingen. Ich glaube nicht, dass er es darauf anlegte. Es war ansteckend, seine Art zu denken war ansteckend.
Und dann trank er ein paar Gläser.
»Genitalwarzen«, sprach er mit höhnischem Lachen in die klare Luft unseres Familienwohnzimmers und hielt uns einen ausgelassenen Vortrag darüber, wie man eine bestimmte Art von Genitalwarzen anhand einer Serie von Ehebrüchen im Hampstead Royal Free habe zurückverfolgen können. »Wir nannten sie die ›freien Warzen‹«, sagte er, worauf Scherze über Sterilkabinen und entsetzte Ehefrauen von Oberärzten folgten. Ebenso natürlich Patienten, die im Koma
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