Das Familientreffen
die ganze Zeit über gewusst – wir besuchen meinen Onkel Brendan, obwohl ich, da ich erst acht bin, nicht verstehe, dass mein Onkel logischerweise Adas Sohn ist, oder nicht weiß, was das bedeutet: »Sohn«. Aber bestimmt habe ich es schon die ganze Zeit über geahnt: dass wir in St. Ita’s, was kein richtiges Krankenhaus ist, meinen Onkel Brendan besuchen und danach im Meer planschen werden.
Besonders Liam ist überspannt und eigenbrötlerisch, er will auf der anderen Straßenseite gehen und auf das tief liegende Feld hinuntersehen, das sich in Moorland verwandelt, aber Ada lässt ihn nicht, er muss auf dem Bürgersteig bleiben, denn dazu ist dieser gemacht, und was würde unsere Mutter sagen, wenn Ada ihn zurückbrächte und ein Auto hätte ihm sämtliche Knochen im Leib gebrochen? Und als sie unsere Mutter erwähnt, wird alles noch ein bisschen ärger, denn was ist Liam für mich anderes als ein »Bruder«, und was ist er für Mammy anderes als ihr »Sohn«? Als ich aufsehe, ist der alte Zweistock verschwunden, und wir sind an der langen Schneise im Getreide vorbei, falls sich dort eine lange Schneise befunden hat, und hinter uns segelt der Bungalow weiter mitten im Feld, bis an die Schandeckel in Goldbraun versunken.
An das Krankenhaus erinnere ich mich nicht mehr. Schätzungsweise hat Ada uns nicht mit hineingenommen. Auf dem Gelände befand sich ein Handballplatz, dort ließ sie uns zurück, und wir spielten zwischen den Betonwänden. Auf dem Hügel hinter dem Handballplatz stand ein Rundturm, wie der irische Rundturm auf unseren Schreibheftumschlägen, und daneben ragte eine riesige Vase aus Stein auf, an die dreißig Meter hoch, und das war ein Wasserturm. Die beiden standen dort auf dem Hügel Wache, wie eine dicke Frau und ein dünner Mann, die weit aufs Meer hinausschauen. Dort unten lag es, am Fuß des Hügels. Eine rollende See unter einem harten weißen Himmel. Und wir hätten hinunterlaufen können, aber Ada hatte uns befohlen, dazubleiben, und so spielten wir ein wenig auf dem Handballplatz, nicht so richtig, aber uns gefiel die Form der Anlage, und wir waren gern hier; die hintere Mauer und die beiden abgeschrägten Seitenwände, wie wenn man das Ende von einem Schuhkarton abschneidet. Auf der einen Seite standen der Rundturm und der Wasserturm, und auf der anderen Seite erhob sich eine Mauer aus roten Backsteinen. Wir warfen dieser Mauer keine Blicke zu und auch nicht den schmutzigen unvergitterten Flügelfenstern, hinter denen die Irren saßen. Wir stellten uns lieber nicht vor, was Irre taten, wenn sie Kinder erblickten – sie auffressen, dachte ich, an ihren Ohren lutschen und lallen -, deshalb spielten wir den Irren, die uns beobachteten, »liebe Kinder« vor, bis Ada mit ihrem halb leeren Einkaufsnetz zurückkam und überaus zufrieden war, uns dort spielen zu sehen.
»Nun kommt«, wird sie wohl gesagt haben, und wir erzählten ihr nichts von dem einen Irren, den wir den Pfad vom Meer hatten heraufgehen sehen, langsam und blöde und schmutzig und schrecklich, und der uns voll angeglotzt hatte, als er vorbeiwatschelte.
Danach muss es dann wohl das Meer gewesen sein. Ada, die uns zu einem Glas roter Limonade in einen Pub brachte, der ein schwarzes, mit riesigen weißen Lettern beschriebenes Dach hatte. Wir müssen am Krankenhaustor den Bus zum Bahnhof erwischt haben und dann mit dem Zug nach Hause zurückgefahren sein.
18
Um diese Zeit begann Liam, sich nachts zu fürchten, und obwohl eigentlich Kitty mit mir im Doppelbett schlafen sollte, kam er im Dunkeln herüber, drängelte sich zwischen uns, schubste Kitty mit dem Ellbogen hinaus und fauchte sie an, sie solle in das Bett umziehen, das er eben verlassen hatte. In ihrem Nachthemd sah Kitty so viktorianisch aus: ihre Fersen und Knöchel, die weiß auf den Dielen leuchteten, das Haar, das ihr wirr um ein vom Schlaf gerundetes Gesicht fiel. Fast vermisste ich sie, die heilsame Ruhe ihres Atems auf dem Kopfkissen neben mir, wo sich nun Liams Gesicht befand, seine großen Augen blinzelten, und seine Hände fuhrwerkten unter der Decke herum, als er sich dort ein Plätzchen zurechtmachte. Er lag nie still: rutschte vom Kissen nach unten und sah zu mir auf, schob sich wieder zum Kopfbrett hoch, wälzte sich herum und wand sich oder lag vor Angst stocksteif da – dort am Fenster zeigte sich ein Gesicht, oder stell dir vor, unter Dublin läge ein Vulkan, oder wir fielen in ein Loch und hätten den Mund voller Maden. All dies mit großem Genuss
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