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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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stets weniger interessant war als der, den er verlassen hatte, oder sogar schrecklicher. Liam war anfällig für Langeweile und Niedergang, er war zu unbestimmt und zu rastlos, um eine tragische Figur aus sich zu machen, schon damals.
    Eigentlich will ich sagen, dass ich – in einer der unendlichen Abstufungen, die es bei diesen Dingen gibt – für Stoke Newington zu kleinbürgerlich war, aber das stimmt nicht ganz. Nein. Ich kniff die Augen zu vor dem Zimmer, und als ich sie wieder öffnete, erwartete ich, dass es verschwunden wäre, das ist alles: die kastanienbraunen Kränze, die sich quer über die Tapete schwangen, die schmalen türkisfarbenen Scheuerleisten, der nackte Fußboden mit dem faserig abgeschnittenen Stück Teppichboden als Läufer. Wenn ich meine Augen wieder öffnete, wollte ich, dass das Zimmer verschwunden wäre – oder ausgeräumt, das Haus leer, die Mieter tot, der schöne und langweilige Australier (oder »Greg«, wie er hieß) zu Staub zerfallen. Ich wollte, dass Liam unter seinem Stapel Decken hervorkroch und sagte: »Großer Gott, Vee, lass uns gehen und eine Tasse Kaffee trinken. Lass uns nach Hause fahren.«
    Und dies, obwohl ich wusste, dass Liam nie mehr nach Hause kommen würde, nicht zu diesem Bett, nicht zu dem Bett im Griffith Way und nicht zu irgendeinem anderen Bett, das er sich gemacht hatte, mit aufgeschüttelten Kopfkissen und umgeschlagenem Betttuch.
    Er stritt sich gern mit Leuten – und hier in Stoke Newington ärgerte mich das zum ersten Mal. Da gab es ein Problem mit der Miete – er habe den Briefumschlag unter der Tür hindurchgeschoben, sagte er, es sei ein weißer Umschlag gewesen, ein länglicher, und der Name des Typen habe mit rotem Kugelschreiber daraufgestanden. Wenn Liam ins Detail ging, wusste ich, dass er log und dass er versuchte, sich selbst zu überzeugen. Sobald er sich ins Gedächtnis rief, dass der Kugelschreiber rot war, sah er ihn vor sich und konnte sich daran erinnern, dass er damit geschrieben hatte. Diese ziellosen Streitereien führten nur zu mehr Schlamassel und Gequengel: Um vier Uhr morgens oder um zwei Uhr nachmittags wurde Liam mit den Worten »Scheiße noch mal, nun hau endlich ab!« vor die eine oder die andere Tür gesetzt.
    Mit mir stritt er nie. Ich war seine Schwester. Ich stand auf seiner Seite.
    Aber den Australier hätte er für ein ziemlich kleines Nichts gehalten, und auch das wusste ich, als ich stocksteif in dem Zimmer lag, das wir uns teilten, während der drei Tage, an die ich mich nicht mehr erinnere, bis ich aufstand, meine Sachen packte und meinen Koffer die Treppe hinunterschleppte.
    Ich behaupte, dass ich das Zimmer drei Tage lang nicht verlassen habe, aber irgendwann musste ich doch bestimmt etwas trinken oder auf die Toilette gehen. In dem Haus gab es ein Problem mit den Türen: Immer wieder wurden die Schlösser aufgebrochen, deshalb ist die Tür zu unserem Zimmer, wie ich sie jetzt vor meinem geistigen Auge sehe, aufgesprungen, und es ist dieser Türspalt, der mich quälte, als ich auf dem Bett lag, die Tatsache, dass, wenn ich die Augen öffnete, noch alles vorhanden war.
    Ich ließ Liam bei dem geöffneten Türspalt zurück und bei allem, was sich dahinter verbergen mochte. Etwas Langweiliges und Schreckliches: Tod, dieser Vergewaltiger, der eindringt und im Zimmer umgeht und nicht sagt, was er will, bis er es sich einfach nimmt. Und ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, was mich veranlasste, mich aufzusetzen, meine Sachen in den Koffer zu werfen und zu gehen. Ich stelle mir Vogelgesang in der Ferne vor, das Gefühl, dass mich jemand nach Hause ruft, aber der einzige Mensch, der nach mir hätte rufen können, war Liam, und der war nirgends zu sehen.
    Der Koffer war luftwaffenblau, steif, mit abgerundeten Ecken. Er gehörte meiner Freundin Deirdre Moloney vom College, genau der, deren Mutter sie drei Monate vor ihrer Abschlussprüfung auf die Straße gesetzt hatte. Zu diesem Zeitpunkt führte sie ein nettes kleines Leben, in dem stets Dinge wie Koffer und, sagen wir, Wanderschuhe zur Hand waren. Es war also der Koffer einer Flugbegleiterin, den ich die Treppe hinuntertrug und der, genau wie der einer Flugbegleiterin, mit schmutziger Wäsche und ausgequetschten Tuben Verhütungscreme angefüllt war, in der Mitte von alldem das winzige, unterdrückte Glucksen einer fast leeren Flasche Gin.
    Gluck gluck gluck gluck.
    Liam hielt sich in irgendeinem anderen Haus auf, in einem wie diesem oder einem noch

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