Das Familientreffen
durch einen plötzlichen, kurzen Nebeldunst gefahren, auf dessen anderer Seite die Vergangenheit liegt. Ich lasse den Wagen im zweiten Gang rollen und beuge mich über das Lenkrad, als wir an den Unterkünften des Pflegepersonals, am Haus des Anstaltsleiters und dann am Krankenhaus selbst vorbeikommen, das aus viktorianischem rotem Backstein erbaut ist und die Ausmaße einer Kleinstadt hat.
»Behindertendienste« steht auf dem Schild, und erleichtert denke ich, dass die Irren nicht mehr sind. Die Irren sind, ganz naturgemäß, zu Staub geworden. Die Menschen sind nicht länger verrückt. Die Irren in diesen Zimmern sind nur noch Hautreste, abgeschabt, abgehackt oder auch nur abgeworfen: eine Million Schuppen, etwas Weiches unter den Dielenbrettern, die Qualität des Lichts.
Wir kommen durch einen Innenhof mit einem hohen Schornstein und einem kleinen Kesselhaus, alles im verschwenderischen roten Backstein des Industriezeitalters. Das Kesselhaus weist seltsame runde Fenster auf, deren Glasscheiben von Davidsternen zerteilt werden.
»Himmel«, sagt Kitty, die wie ich eine Sekunde lang gedacht hat, dass man darin geisteskranke Patienten verbrennt, um im Krankenhaus die Heizkörper zu erwärmen.
Beim Handballplatz halte ich an, den Motor im Leerlauf, und betrachte den Rundturm und den Wasserturm dahinter. Aber es ist mir unmöglich, die Handbremse anzuziehen und in die nackte Luft der Anstalt hinauszutreten, solange uns noch immer die Flügelfenster in ihren langen Reihen anstarren. Langsam steuere ich auf einen Bungalow unten am Meer zu, und meine dicken Reifen knirschen über den Kies, dann wende ich in drei Zügen und fahre zurück.
Als wir wieder an der Toreinfahrt sind, rase ich die wenigen hundert Meter zum Meer selbst hinunter, zum öffentlichen Meer, zum Badestrand. Salzwasser flößt mir immer das Gefühl geistiger Gesundheit ein, die Höhe der Wellen, schnellende Fische und trotz alldem der riesige Druck, der auf dem Meeresboden lastet. Eine kleine Wohnsiedlung reicht bis ans Ufer, ein Kind auf einem Fahrrad, sprachlos vor Neugier, und als ich am Ende der Straße kehrtmache, eine graue Mauer, die einen kleinen Acker umschließt. Und auf diesem Acker – er ist wirklich sehr klein – steht ein keltisches Kreuz, auf dem zu lesen ist (ich steige aus, um die Inschrift zu entziffern):
1922-1989
IN EURER HERZENSGÜTE
BETET BITTE
FÜR DIE INSASSEN VON
ST. ITA’S KRANKENHAUS,
DIE AUF DIESEM FRIEDHOF BEIGESETZT SIND.
MÖGEN SIE IN FRIEDEN RUHEN.
Ein einziges Kreuz – ziemlich neu – am Ende eines kleinen Pfades in der Mitte. Eine Doppelreihe Schösslinge verheißt künftige Ebereschen. Es gibt keine Gedenktafeln, keine getrennten Gräber. Ich frage mich, wie viele Menschen wohl in die Erde dieses Ackers hinabgeschleudert wurden, dann merke ich, zu spät, dass das Erdreich von Leichen geradezu überkocht, dass der Boden aus ihren verhedderten Knochen gestrickt ist.
Hilflos blicke ich zu Kitty auf dem Vordersitz des Wagens.
Sie schnappen nach meinen Schenkeln. Welche Empfindung auch immer es sein mag, sie packt mich an den Schenkeln. Ein undeutlicher Windhauch. Er greift nach mir, drängt sich zwischen meine Kleider und meine Haut. Er sträubt jedes einzelne Haar. Streift meine Lippen. Und ist fort.
25
Einmal sah ich in der Messe einen Mann mit Syphilis im dritten Stadium. Er saß in der Bank vor uns und kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten, bis Mossie uns auf ihn aufmerksam machte, denn Mossie war derjenige von uns, der sich in derlei auskannte. Die Ohrläppchen des Mannes waren zerfressen, zusammengeschrumpft wie geschmolzenes Plastik. Wenn er sein Halbprofil zeigte, sah man, dass sein Nasenrücken mit seinem Gesicht verwachsen war und nur einen Klumpen Fleisch hinterlassen hatte, ganz unten, wo seine Nasenlöcher waren. Sein Atem ging rasselnd und laut, aber verrückt wirkte er nicht – später erklärte uns Mossie, am Ende würden sie immer verrückt. Dennoch, in seinem Gesicht waren die Symptome seines Lebenswandels nicht zu übersehen.
Auf der Heimfahrt von der Messe, im Auto, sprach Kitty es aus. Sie dürfte etwa elf gewesen sein. Sie sagte: »Der Mann vor uns hatte Syphilis im dritten Stadium.«
Der Kopf meines Vaters sank tiefer in seinen Nacken, während er fuhr, und von hinten sah er noch dicker aus. Nach einem Augenblick sagte meine Mutter: »Oh.«
Geschichte ist etwas rein Biologisches – so denke ich jedenfalls darüber. Wir wählen die Tatsachen, die uns betreffen,
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