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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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alles aufzulisten -, obwohl niemand vom Lümmel oder vom Bolzen sprach oder davon, sich den Schwanz lutschen zu lassen . Wie kommt das nur? Warum fanden wir das alles so vergnüglich, aber immer nur auf diese eine fast ritualisierte Weise?
    Diese Gespräche fanden ein oder zwei Monate lang im Lauf eines Sommers statt, dann versiegten sie. Mir gefielen sie. Mir gefiel das Schweigen, wenn das Gelächter sich gelegt hatte. Liam schwieg auf eine Art, als hätte er sich eben in die Hose gemacht, ohne dass jemand es bemerkt hatte, sodass alles in wunderbarster Ordnung war. Und mein Schweigen war die winzige Möglichkeit – aufgenommen und dann verworfen -, auf die feuchte Stelle zu zeigen.
    Ich möchte, dass man mir dieses Vergnügen – klein, aber heftig – verzeiht. Ich möchte, dass man mir verzeiht, weil ich es inzwischen zutiefst bedaure.
    Wenn ich an so etwas wie Beichte glaubte, würde ich hingehen und bekennen, nicht nur dass ich zeit seines Lebens über meinen Bruder gelacht habe, sondern dass ich zuließ, dass er über sich selbst lachte. Diese Phase des Gelächters überdauerte sein fröhliches Trinken und sein lärmendes Trinken und verlor sich erst während des letzten stinkbesoffenen Stadiums seiner Trunksucht. Aber so richtig aufgegeben hatte er sie nie – die Idee, dass alles nur ein einziger großer Scherz war.
    Mit Selbstmitleid hatte Liam nichts am Hut, weder mit seinem eigenen noch mit dem anderer. Wenn es jemandem dreckig ging – etwa Kitty -, dann in seinen Augen immer nur aus dem falschen Grund. Verstehen Sie mich nicht falsch, Liam liebte Menschen, die litten – er liebte die Armen, die Notleidenden, die Einsamen, die Alkoholiker, er bemitleidete jeden, der ein Problem hatte, solange sich dieser nur nicht selbst bemitleidete. Was mir nicht eben gerecht vorkommt. Eher wie Hoffart.
    Ich weiß, ich klinge verbittert, und Himmel, ja, manchmal wünschte ich, ich wäre nicht so eine alte Hexe, aber mein Bruder hat mir zwanzig Jahre lang oder länger Vorwürfe gemacht. Er hat mir Vorwürfe gemacht wegen meines schönen Hauses, wegen der schönen weißen Farbe an den Wänden, wegen der schönen Töchter in ihren Schlafzimmern in schönem Lila und noch schönerem Rosa. Er hat mir Vorwürfe gemacht wegen meines Golf spielenden Mannes, obwohl es Gott weiß wie viele Jahre her ist, dass Tom Muße für eine Partie Golf gefunden hat. Er hat mich behandelt, als hätte ich Verrat an irgendetwas geübt, obwohl ich nicht weiß, woran – denn Träume gestattete Liam natürlich auch nicht. Mein Bruder hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, doch zu jedem, der sich darum bemühte, ihn zu lieben, war er unfreundlich, vor allem und hauptsächlich zu jeder Frau, mit der er schlief, und dennoch, nach einem Leben, in dem er nichts als Schmerzen zugefügt hatte, brachte er es fertig, mir Vorwürfe zu machen. Und ich brachte es fertig, mich schuldig zu fühlen. Wie kommt das nur?
    Das bewirkt die Scham. Das ist die Anatomie, das ist der Mechanismus einer Familie, eines ganzen abgefuckten Landes, die allesamt in Scham versinken.
    Und, ja doch, manchmal betrachte ich meine schönen Wände und sage wie Liam: »Reiß doch das ganze Ding ein.« Besonders nach einer schönen Flasche schönen Rieslings. Als wäre die Welt auf einer Lüge erbaut, und die Lüge wäre sehr heimlich und sehr schmutzig. Aber ich glaube nicht, dass Imperien oder Städte oder auch nur Einfamilienhäuser mit fünf Schlafzimmern auf der schnöden Tatsache erbaut sind, dass Leute Sex haben, ich glaube, erbaut sind sie auf der schnöden Tatsache, dass Leute Hypotheken haben. Trotzdem, mein Mann vögelt mit mir in der Nacht nach der Totenwache für meinen Bruder, und ich schwenke meine leere Flasche vor der kunstwildledernen italienischen Sitzgarnitur, und auch ich sage: »Soll doch alles einstürzen.«
    Bei einem der letzten Besuche Liams waren wir gerade dabei, einen offenen Wohnbereich zu schaffen – der rückwärtige Teil des Hauses wurde herausgerissen, und wir alle kampierten in der vorderen Hälfte und aßen was aus der Imbissstube. Ich glaube, ich schob die Schuld Liam zu und nicht den Handwerkern. Mitten in all dem Schutt traf er mit einer traurigen Frau ein, die zu groß für ihn war und keine Meinungen zu haben schien, nicht einmal dazu, was sie essen wollte. Er trank unaufhörlich. Nach fünf Tagen brachen sie nach Mayo auf, und ich hoffte, ihn niemals wiederzusehen.
    Ich habe ein Foto von diesem Besuch. Liam, der eines Abends die

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