Das Familientreffen
Ostern, saßen wir während der Mitternachtsmesse draußen auf einer Wiese, wo eine Schule gebaut werden sollte, und betranken uns zusammen. Wir ließen eine Viertelliterflasche Wodka kreisen und mixten den Wodka im Mund mit einem Schluck Orangenlimonade. Ich ließ es nur widerwillig geschehen – aber geschehen musste es, das wusste ich. Oder wenn es kein Widerwille war – was für ein Gefühl war es dann? Einsamkeit. Der Anblick Liams, der sich im Dunkeln in das ruhige Gesicht meiner Freundin Jackie verwandelte. Währenddessen saßen Willow und ich jeder für sich und mussten laut schlucken. Im Kirchenschiff wurde die Osterflamme von Kerze zu Kerze gereicht, bis das ganze Gebäude in Brand zu stehen schien: Dann erst wurden die Neonlichter eingeschaltet.
Ich habe seit Jahren keinen Wodka mehr getrunken, noch heute haftet seinem Geruch für mich etwas Süßliches und Geschlechtsmäßiges an, ein starker Dufthauch nach Erde und Adoleszenz, der aus dem Glas aufsteigt und einem ins Gesicht schlägt. Erst heulte mir Jackie was am Telefon vor, dann war die Reihe an Fidelma, bis ich Liam anbrüllte, er solle meine verdammten Freundinnen in Frieden lassen. Danach zog er samstagabends allein los, und ich ließ mich mit Joe Ninety ein – der so hieß, weil er dreißig war -, mit einem Mann, der, wie ich inzwischen weiß, so heftig in mich eindringen wollte, dass er sich vom Kuss abwenden und mit der Stirn gegen die Wand schlagen musste. Das alles liebte ich. Joe Ninety wollte, dass ich mich auftakelte, und schleuste mich in Pubs, während Liam mir entglitt, in seine vergeudete Jugend.
Eines Abends nahm Bea in der Diele einen Anruf entgegen.
»Ja. Ja, da sind Sie richtig verbunden«, sagte sie, und das ganze Haus hielt inne, um zu lauschen. Dann holte sie Daddy.
»Ja, da sind Sie richtig verbunden«, sagte er. »Gut. Ja. Ja, gut.« Dann stapfte er nach oben, suchte sein Jackett und seine Krawatte, schloss die Haustür hinter sich und trat hinaus in das herbstliche Dunkel.
Abends ging er sonst nie aus.
Eine Stunde später kam er genauso wieder zur Tür herein, wie er hinausgegangen war, ausdruckslos und traurig. Liam hinter ihm zuckte die Achseln und hob die Hände, wie um zu sagen, er benötige kein Empfangskomitee. Später erzählte er uns, er sei von Daddy auf der örtlichen Polizeistation ausgelöst oder vielmehr »losgeeist« worden, und es sei nichts weiter – man habe ihm einen Klaps gegeben und ihn nach Hause geschickt.
Den Grund haben wir nie erfahren. Daddy wollte nicht darüber reden – damals nicht und auch später nicht – und behandelte Liam mit neuer, mit vollkommener Verachtung. Zwischen ihnen war es aus: kein Geschrei mehr, kein Druck mehr von Daddy, der immer den Zeigefinger ausgestreckt und ihn den Jungen zwischen die Schulterblätter gestoßen hatte.
»Was. Habe. Ich. Dir. Gesagt?«
Stoß. Puff. Knuff.
Manchmal frage ich mich, wieso es in der Küche nicht zu Mord und Totschlag kam.
»Du treibst es zu weit, Daddy. Treib’s bloß nicht zu weit.«
Aber Daddy legte es nicht einmal mehr darauf an, Liam herumzuschubsen. Die Polizei hatte bei uns zu Hause angerufen, und die Schande war so überwältigend, dass kein Wort mehr darüber verloren zu werden brauchte.
Wenn ich heute daran denke – was für ein Theater. In der Küche hob Liam die Haare, um uns einen getrockneten Blutfleck vorzuführen und eine rote Schwiele, die von der Wange bis zum Hals verlief, dort, wo sich sein Gesicht an der Klinke der Zellentür verfangen hatte. Ich sehe es noch vor mir, in leuchtenden Technicolorfarben: sein Haar sehr schwarz, die Narbe sehr rot und die Augen ein unverdünntes Blau. Sie hätten ihn »ein bisschen rangenommen«, sagte er, »ein bisschen durchgeklopft«.
Und ich sagte: »Red doch kein blödes Zeug.«
Er sah mich an.
Inzwischen glaube ich, dass ich damit meinte, er müsse wohl selbst schuld gewesen sein, wenn sie ihn schlugen. Ich betrachtete die Schwellung auf seiner Wange und beschloss, ihm nicht zu glauben, falls es darum ging, etwas zu »glauben«. Das war alles.
Ich beschloss, dass er es nicht verdiente, dass man ihm glaubte.
»Red doch kein blödes Zeug.«
Was sonst?
Wir haben über so manches gelacht: über vertrottelte Priester und die Klöten kleiner Jungs, über »Komm her und setz dich auf mein Knie, kleiner Mann«, englische Chorknaben und die Hintern von Schwulen und über alles, was mit Unschuld und Popos zusammenhängt, obwohl niemand – jetzt, da ich innehalte, um das
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