Das Familientreffen
sorgfältig aus – woher wir kommen und was es zu bedeuten hat. Ich sitze da und säubere meine Fingernägel und denke an die letzte Maniküre, die der sanfte junge englische Bestattungsunternehmer Liam hatte angedeihen lassen, von einer Bartheke abgeriebene Schwärze, Politur und Schweiß, vergossenes Bier und die Haut anderer Leute. Was der Zukunft vorgeschrieben ist, ist dem Körper eingeschrieben, der Rest ist nur eine Spur.
Ich weiß nicht, wann Liams Schicksal seinen Knochen eingeschrieben wurde. Und obwohl Nugent der erste Mann war, der dort seinen Namen eintrug, glaube ich aus irgendeinem Grunde nicht, dass er der letzte war. Nicht weil ich Zeuge anderer Vorgänge geworden wäre, sondern weil das die Art ist, wie diese Dinge funktionieren. Natürlich wusste damals niemand, wie diese Dinge funktionierten. Wir sahen uns Leute wie Liam an und hatten ganz andere Geschichten zur Erklärung parat, mit einer Liste ganz anderer Wörter: Schnösel, Rowdy, Affe, Schläger, hoffnungsloser Fall, Nichtsnutz, Verrückter, Chaot.
Jetzt, da er tot ist, muss ich sagen, dass Liam auch seine Glanzzeiten hatte.
Im Alter von fünfzehn Jahren war mein Bruder unerwartet schön – und das zur selben Zeit, als ich noch Feist und Fett der Adoleszenz durchmachte. »Wo hast du denn die Rattenschwänze her?«, ließ Ita sich über meine Haare aus, oder: »Warum sind denn deine Augenlider so rot, glaubst du, du hast eine Infektion ?«
Ita würde eine »Schönheit« werden, sie würde sich einen Mann »angeln«, insofern hatte ihr Aussehen von früh an etwas Unverwüstliches. Unterdessen wurde mein eigenes Gesicht von Woche zu Woche unleserlicher, auch für mich. »Wo hast du denn den Zinken her?«, fragte sie. Eine gute Frage, Ita, eine sehr gute Frage, vielen Dank auch.
Eine Zeit lang hatte Liam einen komischen Haarwuchs, und einmal, als er vierzehn war, blühten seine Lippen bizarr und dauerhaft. Aber weil er von kleinem Wuchs war und, ich denke mal, »hübsch«, dauerte seine Pubertät nur etwa eine Woche lang. Mit sechzehn war er schön und schlimm und das Blau seiner Augen schwindelerregend. Und obwohl seine Rastlosigkeit ihn am Ende untauglich machte für die Welt der Erwachsenen, war Liam während seiner letzten Schuljahre ein Prinzchen, ein Herzensbrecher, jenseits aller Regeln.
Sobald Mossie aus dem Haus war, zog Liam in den Durchgang zum Garten um, wo die Wände gekalkt waren und der Fußboden mit roh geschnittenem Linoleum ausgelegt. Das Kabuff hatte den Vorteil eines separaten Eingangs, sodass man nie wusste, ob er da war oder nicht. Er umgab sich mit einer kleinen Clique von Freunden, die über die rückwärtige Mauer hopsten und von Zeit zu Zeit durchs Küchenfenster spähten, meistens Jungen und, nach einer Weile, ein paar Mädchen. Sein bester Freund war Willow, mit dem er herumhing und Experimente durchführte – die meist darin zu bestehen schienen, sich irgendwelche Sachen in die Hosentaschen zu stopfen und jedes Mal, wenn ich die Tür aufmachte, dumm aus der Wäsche zu gucken.
Mir war’s egal. Ich war längst zu alt für sie. Ich war vollauf damit beschäftigt, die Umschläge meiner Schulhefte mit liebeskranken Botschaften an Willows älteren Bruder Tanner zu bekritzeln. Ich schrieb sie auf Französisch, damit niemand sie verstand – außer Mrs Gogarty natürlich, unserer Französischlehrerin. » Mon amour est un petit oiseau brun / Blessé par toi,/Tanner .« Sie las sie verkehrt herum, blickte mich zärtlich an und lächelte. Dafür hasste ich sie. Ich hasste sie dafür, dass sie mich entlarvt hatte und dass sie mich ein bisschen lieb hatte (denn das schien sie zu tun). Das Gute an einer kinderreichen Familie ist, dass man seine Ruhe hat. Niemand kramt in irgendwelchen Sachen herum, es sei denn, um sie zu stehlen oder über einen herzuziehen. Niemand hatte je Mitleid mit mir oder hatte mich ein bisschen lieb , ausgenommen vielleicht Ernest, dessen Mitleid schon damals zu wohlüberlegt war, als dass es darauf angekommen wäre. Und wir dachten, dies sei eine rechtschaffene Art zu leben. In gewisser Weise denke ich das noch immer.
Unterdessen hatte ich zwei Freundinnen, die plötzlich auf dem Heimweg von der Schule vorbeischauten, und wir hatten irren Spaß – bis Liam in die Küche kam und der Spaß noch irrer wurde: Fidelma, bei der es mir nichts ausmachte, und meine beste Freundin Jackie, bei der es mir schon was ausmachte. Von allem anderen abgesehen, war er zu klein für sie. Einmal, es war
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