Das Familientreffen
erstarrte, und ihre Wut tobte durchs Zimmer, bis sie sie irgendwie einfing und wieder in sich hineinstopfte. Danach explodierte sie, ein Feuer speiender Krauskopf, die Karikatur einer kleinen Schwester, und trommelte mit den Fäusten gegen Mossies Brust. Womit sie sich nur noch mehr Ärger einhandelte, denn bei Mossie durfte man nicht zu weit gehen. Liam und ich, wir taten es ja nur, um sie aufzuziehen.
Und natürlich fühle ich mich schuldig, wenn ich heute daran denke, und glaube unter keinen Umständen, dass es richtig ist, jemanden zu schlagen, wen oder wann auch immer, aber wenn sie sich wie eine kleine Zimtzicke aufführt wie gerade eben, juckt es mich doch in den Fingern und ist mehr als nur Belustigung. Wenn ich sehe, wie sie den Kopf zurückwirft, eine winzige Geste der Überlegenheit, dann wünsche ich mir, sie wäre noch einmal sechs.
Ich hebe mein Glas und sage: »Prost.«
Sobald wir im Flugzeug sitzen, fängt sie an zu heulen. Sie weint den gesamten Flug über. Kübelweise Tränen. Lautlose Rinnsale, Seufzer, Schulterzucken, Schüttelkrämpfe und wieder von vorn. Für mich hört es sich so an, als habe sie das Weinen ebenso oft geübt wie praktiziert. Während ihr die Flugbegleiterin freundlicherweise einen Brandy für ihren Kaffee anbietet und dann fünf Pfund Sterling dafür verlangt, schaue ich aus dem Fenster.
»Geht’s jetzt wieder? Bist du dir sicher?«
Der Mann auf ihrer anderen Seite ahnt, dass jemand gestorben ist. Er fragt sich, ob ich wohl eine Sozialarbeiterin sei oder vielleicht gar eine Gefängniswärterin und warum ich nicht ihre Hand halte. Und auch ich frage mich, warum ich nicht ihre Hand halte, während ich auf die ferne Haut der Irischen See hinabblicke. »Wir haben zwanzig Jahre lang im selben Zimmer geschlafen«, will ich ihm erklären. »Reicht Ihnen das nicht, geht das über jedes Soll nicht weit hinaus?«
Unterdessen sitzt Liam eine Reihe vor uns auf der anderen Seite des Gangs. Sein Geist hat etwas Schläfrig-Bedrohliches, das mir zu erkennen gibt, wie gleichgültig ihm alles war, als er schließlich von uns allen fortging, ins Meer. Ich spüre seinen Blick auf meiner Wange, als er sich umwendet und mich ansieht, gespenstisch und tot. Ich weiß, was sein Blick sagen will.
Er sagt die Wahrheit. Die Toten wollen nichts anderes. Es ist das Einzige, was sie fordern.
Ich schaue zu schnell auf, und er ist verschwunden.
Auf Lambay Island steht ein großes weißes Haus – schätzungsweise georgianisch und zig Millionen wert. Das erste Mal sah ich es an dem Tag, als wir mit Ada unseren verrückten Onkel Brendan besuchen gingen, es muss vom Strand aus gewesen sein. Und plötzlich geht mir ein Licht auf: Ada hat ihren Sohn verloren, ihn verloren an Largactyl und Verwahrlosung. Wie viele Jahre ging das so? Vermutlich ist er mit der Frage auf den Lippen gestorben, wer er eigentlich sei.
Ich suche den Küstenverlauf nach einem Strand, einer Brücke, einer Bucht ab, dann wieder nach einer Landzunge – und jetzt sehe ich sie unter mir: den Bleistift eines Rundturms, die bauchige Vase eines Wasserturms und neben diesem einen von Bäumen umstandenen Gebäudekomplex. Kaum habe ich ihn entdeckt, hat er sich meinen Blicken auch schon wieder entzogen, das Flugzeug legt sich in die Kurve und schnappt sich ein Stück Himmel.
»Was war eigentlich mit Onkel Brendan los?«, rufe ich Kitty über den Lärm hinweg zu.
»Was mit Onkel Brendan los war?«
»Ja, mit Onkel Brendan.«
»Wozu willst du was über Onkel Brendan wissen?«
Das Flugzeug öffnet seinen Bauch, und wir warten darauf, dass sein Fahrgestell einrastet. Dass es seine kleinen Füßchen ausstreckt, sich auf die Hinterbeine stellt.
»Er ist gestorben«, lässt Kitty sich erweichen.
»Ach ja?«
»Ich mochte ihn ziemlich gern.«
»Mmh?«
Ich war überzeugt, dass ich ihm nie begegnet bin, doch jetzt ist er plötzlich hier, sitzt im Griffith Way an der Weihnachtstafel, ein von Hängebacken entstelltes Gesicht, die Nasenlöcher rot gerändert, und seine Augen – wenn ich an sie zurückdenke, waren seine Augen müde und unwirsch, als wäre der Wahnsinn eine lästige Angelegenheit, fast so lästig wie Weihnachten. Mein Gedächtnis setzt ihm eine orangefarbene Papierkrone auf, drückt ihm ein Glas Brandy in die zitternde Hand, aber in unserem Haus gab’s gar keinen Alkohol, bevor Liam ihn einzuschmuggeln begann, und auch keine Papierkronen.
Von Brendan haben wir unsere Augen geerbt: Spillane-Augen, die sich mit dem
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