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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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gewisse Weise alles um uns herum merkwürdig erscheinen ließ: die Berge und den bleichen Himmel und die allzu orangefarbenen Blätter, die sich in diesen letzten Tagen unserer unheiligen Allianz abzufallen weigerten.
     
    Welches war die beste Zeit?
    Als Liam etwa vierzehn war, hatte er ein Fahrrad, und ich hatte keines, und auf der Querstange nahm er mich mit zu den Geschäften oder zum örtlichen Schwimmbad. Ich weiß nicht, wie er über meine Schulter blicken und immer noch lenken konnte. Was das anging, stritten wir uns dauernd – ich hielt krampfhaft die Lenkstange fest, er versuchte, sie hierhin oder dorthin zu bewegen, sein Kinn grub sich in meinen Rücken, und meine Haare wehten ihm in die Augen. Mit krummen Beinen trat er in die Pedale, und ich spreizte meine zur Seite; so waren wir ein Monstrum aus Ellbogen und Knien, den scharfen Lenkstangenenden und dem bösen Trampeln der Pedale aus rostfreiem Stahl. Man sollte meinen, wir hätten’s zum Spaß getan, aber es war von Anfang bis Ende ein einziger Kampf.
    Danach, im Schwimmbecken, ignorierten wir einander aus Gründen der Geschlechtszugehörigkeit, und wenn es keine Jungen gab, mit denen er sich herumtreiben konnte, schwamm er allein, und wenn es keine Mädchen gab, schwamm ich allein. Manchmal kannten wir keine Menschenseele, aber die Chance, jemanden kennenzulernen, wollten wir nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass wir uns miteinander unterhielten. Und wenn er auf mich zukam, mit seiner mageren nassen Brust und seinem rot gefleckten Gesicht, war ich fuchsteufelswild, weil er mich hatte auffliegen lassen. Denn wer kann schon ein geheimnisvolles Objekt aus der Tiefe sein, wenn der eigene Bruder herumlungert und sagt: »Du hast da’ne Rotzglocke hängen.«
    »Halt den Mund.«
    »’ne große, grüne.«
    »Hab ich nicht. Zieh Leine.«
    »Doch, da ist sie.«
    »Verpiss dich!! Zieh Leine!«
    Seine magere Brust wölbt sich zurück. Sein schmutziger, purpurroter Mund geht unter. Sein Fuß schäumt mir Wasser ins Gesicht, und er schwimmt davon, um sich zu den grässlichen Jungen am anderen Ende des Beckens zu gesellen.
    Auch Natalie wird dabei gewesen sein, eine dicke kleine Zehnjährige mit ein paar Schamhaaren wie die Kinnhaare einer alten Frau – jedes Mal, wenn sie einen Hechtsprung vom Beckenrand machte, verlor sie das Höschen ihres Bikinis. Vier Jahre später frage ich Liam, ob er mit ihr rumgemacht habe, und er wirft mir einen Blick zu aus einer Entfernung, von der ich nicht weiß, wie ich sie überwinden soll.
    Heute weiß ich es.
    Heute weiß ich, dass der Blick in Liams Augen der Blick von jemandem ist, der weiß, dass er allein ist. Denn die Welt wird niemals wissen, was dir widerfahren ist und was du infolgedessen mit dir herumschleppst. Selbst deine Schwester – in gewisser Hinsicht deine Retterin, das Mädchen, das im Saallicht steht -, selbst sie erinnert und erfasst nicht, was sie sieht. Denn zu diesem Zeitpunkt, glaube ich, war es mir gar nicht klar gewesen.
    Im Lauf der nächsten zwanzig Jahre veränderte sich die Welt um uns herum, und mir fiel wieder Mr Nugent ein. Aber allein hätte ich es nie fertiggebracht – wenn ich nicht Radio gehört und Zeitung gelesen und mitbekommen hätte, was alles in Schulen und Kirchen und Elternhäusern vorgefallen ist. Es geschah vor meiner Nase, und trotzdem ging mir kein Licht auf. Und auch das tut mir sehr leid.

26
    Emily wendet mir ihre Katzenaugen zu.
    »Wie ist Onkel Liam gestorben?«, fragt sie.
    »Er ist ertrunken«, antworte ich.
    »Wie ist er ertrunken?«
    »Er konnte im Wasser nicht atmen.«
    »Im Meerwasser?«
    »Ja.«
    Es ist wichtig, sich über diese Dinge im Klaren zu sein – Emily muss die Welt zerlegen, ehe sie sie wieder zusammensetzen kann. Rebeccas Verstand ist keine ganz so präzise Maschine, Angst und Sorge machen sie ganz hilflos. Manchmal wünsche ich mir, sie würde sich mehr konzentrieren, aber wer kann schon sagen, welches die bessere Seinsweise ist?
    »Ich kann schwimmen«, sagt Emily.
    »Ja, du kannst schwimmen, du bist eine großartige Schwimmerin.«
    »Konnte er denn nicht schwimmen?«
    »Liebling, er wollte nicht.«
    »Oh.«
    »Soll ich dich knuddeln?«
    »Nein.«
    »Nein was ?«
    »Nein, danke.«
    »Ich will aber knuddeln. Komm her und knuddle deine arme Mammy.«
    Und sie kommt mit ausgestreckten Armen und einem breiten, geheuchelten Lächeln auf mich zu – die Arme-Mammy-Pantomime. Eigentlich sollte ich ihre Selbstsucht abstoßend finden, tue es aber nicht – in

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