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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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frisch gebadete Emily auf dem Knie sitzen hat. Er ist ein kleines graues Häufchen von einem Mann, lehnt sich zurück in einem Sessel, der mit einem Schonbezug versehen ist. Emily ist zwei, nackt, kerzengerade und schöner, als ich es mit Worten ausdrücken kann. Liams Hände sind groß, wie ausgestopft, und er hat sie vor Emilys Bauch gefaltet, um sie festzuhalten. Wie sie so im Damensitz auf einem seiner Schenkel thront, ist ihr Hintern fest und straff. Der Stoff seiner Hose wirft schlaffe Falten im Schritt – ein Geheimnis, an dem niemand mehr Interesse hat. Liam macht ein belustigtes Gesicht.
    Liam verstand Emily – sie mochten einander. Über Rebecca, die mir ähnlicher ist, sagte er: »Schade, bei diesen Zähnen.«
    Ich nehme an, auch das muss ich verzeihen.
    Schade, bei diesen Zähnen .
     
    Kurz nachdem die Polizei Liam eingebuchtet und unser Vater ihn losgeeist hatte, warf er – quer durch die Küche – mit dem Brotmesser nach unserer Mutter, die sich vermutlich nur bemüht hatte, etwas Nettes zu sagen, und die ganze Familie stürzte sich auf ihn und vermöbelte ihn hinten im Garten.
    »Du verdammter Idiot.«
    »Du hast sie nicht getroffen, du Blödmann.«
    Und wie ich mich erinnere, empfanden alle große Genugtuung. Wie Schorf, den man aufkratzen muss. Er hatte es längst verdient .
    (Und, insgeheim, sie vielleicht auch.)
    Aber ich fragte mich doch noch lange danach, weswegen die Bullen ihn hopsgenommen hatten. Ich musste oft daran denken. Vielleicht hatte er eine Fensterscheibe zerbrochen oder im Spirituosenladen Flaschen geklaut, oder es war nur wegen des Ausdrucks in seinen Augen. Oder vielleicht war es wegen einer Geschichte, die ich mir nicht zusammenreimen konnte. Es gab da ein weinerliches Mädchen, Natalie, die an der Straßenecke herumbrüllte – vielleicht ging es ja um sie. Ich glaubte schon an irgendein Missverständnis, das mein Vater mit weiteren Informationen zu dem Mädchen, ihrer schlampigen Art und der Länge ihres Samstagabendrocks hatte ausräumen müssen.
    Schließlich musste ich Liam rundheraus fragen. Ich sagte: »War’s Natalie? War’s diese Schlunze?«, aber er sah mich nur an.
    Wie, wenn er sie vergewaltigt hatte? War das nicht etwas, das Männer taten? Wie, wenn sie Blut am Bein hatte, Tränen im Gesicht? Rotz? Was noch?
    Ich war sechzehn, und von Sex wusste ich rein gar nichts.
    Ist das nicht seltsam? Was immer ich über die Mechanik des Sex wusste, ich konnte es irgendwie nicht einordnen. Ich wusste nicht, wie diese Dinge funktionierten. Anscheinend waren die Jahre meiner Adoleszenz Jahre wachsender Unschuld, denn mit sechzehn war ich vollkommen leidenschaftlich und vollkommen rein. Wir alle würden Dichter werden, dachte ich, wir würden mit aller Kraft lieben, und Liam in seinem Zorn würde die Welt verändern.
    Trotzdem war da etwas, das ich einfach nicht in den Griff bekam: etwas, das von höchster Bedeutung war, das ich unbedingt wissen musste. Und so fragte ich ihn rundheraus: »Die Sache mit den Bullen – hatte das was mit Natalie zu tun?«
    Liam sah mich an. Und die Kluft, die sich zwischen uns auftat, war die Kluft, die zwischen Mann und Frau besteht – zumindest dachte ich mit sechzehn so -, der Unterschied zwischen dem, was ein Mann in sexueller Hinsicht tun könnte oder tun will, und dem, was eine Frau nur gerade mal erahnen kann.
    »Hast du mit ihr rumgemacht?«, fragte ich.
    Und er sagte: »Du tickst doch nicht richtig.«
    Es gab da einen Wald, durch den wir spaziert sind. Es war im Herbst, vielleicht sogar in jenem Herbst. Die Baumstämme waren grau und hell, und die Blätter, die an ihnen hingen, waren von einem so theatralischen Orange, wie es Blättern eben möglich ist. Inzwischen glaube ich, dass es eine Buchenallee war, und die Wurzeln vor uns hoben sich wuchtig aus der Erde.
    Das war alles.
    Es war eine romantische Szene, als ich diese Allee aus orangefarbenen Blättern entlanglief, und so muss ich wohl an Tanner oder an Joe Ninety, oder wer immer es in dieser Woche gewesen sein mag, gedacht haben. Oder an den unbekannten Mann, den zu lieben mir vorherbestimmt war. Stattdessen war ich inmitten all dieser Schönheit nur mit meinem Bruder zusammen.
    In der Ferne erhoben sich Berge, gewaltige Berge mit Felsen und Heide. Wir gingen unter einem hohen, bleichen Himmel dahin und kamen uns in dieser Landschaft so klein vor, und es gab niemanden, der geurteilt hätte. Das ist alles. Dem Ganzen haftete ein unermessliches Gefühl der Gottlosigkeit an. Was auf

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